Am vorletzten Wochenende habe ich meinen Sohn Samuel in Berlin besucht. Ich hatte im Jahr davor wenig Urlaub gemacht. Nach drei Tagen Berlin kommt es mir vor, als hätte ich eine lange, weite Reise hinter mir. Dabei kenne ich die Stadt gut. Ich habe in den siebziger Jahren meinen ersten Pass bekommen, um mit einer Jugendgruppe nach Berlin zu fahren. Das ist über 40 Jahre her—viel länger als damals der Krieg zurücklag. Seitdem war ich immer wieder in Berlin, im alten Westberlin, in der tristen, spießigen Hauptstadt der DDR, in der offenen Stadt nach der Wende, wo ich noch an der Glienicker Brücke ein Visum in den Pass gestempelt bekam, in der angesagten Stadt für die Leute, die in der Bundesrepublik wichtig sind. Bei meinem letzten Besuch, zur re:publica vor zwei Jahren, habe ich nach ein paar Tagen überrascht festgestellt, dass ich fast die ganze Zeit im ehemaligen Ostberlin herumgelaufen war.
Auf dem Rückflug am Dienstag dachte ich: Wenn ich irgendwo hinfahren will, wo alles gleich bleibt und sich wiederholt, fahre ich ans Mittelmeer, am besten nach Kroatien. Wenn ich Veränderung erleben will, fahre ich nach Berlin. Damit meine ich nicht nur die architektonischen Umgestaltungen, die in Berlin zelebriert werden—es gehört zum Programm dieser Stadt, sich immer wieder zu revidieren und als historisch zu inszenieren. Ich habe in Berlin viele Menschen getroffen, die für mich wichtig waren oder geworden sind. Wenn man an einen solchen Ort fährt, und dieser Ort sich mit einer solchen Wucht aufdrängt, wie es Berlin tut, merkt man, wie man sich selbst verändert hat, wie oft man zu einem anderen geworden ist. Gerade war es mir noch unheimlich, alleine durch diese riesigen Straßen zu gehen. Ich war froh, in der unübersichtlichen Stadt ein Gebäude wie Mies van der Rohes Nationalgalerie wiederzufinden, und ich habe versucht, mit meinen Reiseerlebnissen meine Eltern zu beeindrucken. Jetzt kümmern sich mein Sohn und seine Freundin darum, dass es dem Alten gut geht und er zum Hotel zurückfindet.

Potsdamer Platz

Ich merke es am deutlichsten am Potsdamer Platz und dem angrenzenden Stück bis zum Brandenburger Tor. Ich kenne diese Gegend noch als Brachland, so wie sie Wenders in Der Himmel über Berlin zeigt. Ich kann mich an den Bau der Gebäude am Potsdamer Platz erinnern und die merkwürdige Aussichtsplattform. Ich weiß noch, wie gespannt ich war, als ich mir zum ersten Mal das Sony Center angesehen habe. Jetzt hat die ganze Gegend ihren provisorischen Charakter verloren. Ich treffe meinen Sohn und seine Freundin, die in der Nähe arbeiten, an der Ecke Lenné-Ebertstrasse, und wir gehen in die hessische Landesvertretung essen, ein bundesrepublikanisches Idyll für höhere Beamte.
Das, was man die Form Berlins nennen könnte, stammt aus dem frühen 20. Jahrhundert, aber die Stadt sucht ihre Form noch immer und scheint sich ihrer Form auch nie ganz sicher zu sein. Die interessantesten Elemente sind mehr oder weniger geglückte Versuche. Dabei hat man den Eindruck, dass die Stadtplaner immer wieder den Mut verlieren und nicht wirklich radikal bauen, weder hier am Potsdamer Platz noch in der Gegend um den Bahnhof Zoo. Vielleicht überfordert sie der Zwang, monumental zu bauen, wenn sie nicht eine urbanistische Exklave wie das Hansaviertel konzipieren können.

Schwedter Straße

Städte sind durch das interessant, was sie miteinander verbinden. Die Mauer, deren Reste in der Nähe der Wohnung meines Sohns konserviert sind, wäre vielleicht nicht ganz so unerträglich gewesen, hätte sie nicht abgeschnitten, wofür Städte gemacht sind: die Kommunikation, die Verbindung des Unvereinbaren.
Ich habe ein gespaltenes Verhältnis zu Berlin. Die überdimensionierten Reste einer unmenschlichen Geschichte haben etwas Bedrückendes. Und der Kiezkitsch ist noch gräßlicher als Stimmungs- und Wohlfühlfolklore an Plätzen mit weniger historischem Pathos.
Mein Leben hat sich im letzten Jahr mehr verändert als in Jahrzehnten davor, und ich versuche, neue Gewohnheiten zu entwickeln. Vielleicht fällt mir deshalb auf, wie die Menschen, die ich in Berlin getroffen habe, sich verändern und ihr eigenes Leben neu in den Griff bekommen wollen. Mein Sohn und seine Freundin am Prenzlauer Berg, die sich mit ihren Berufen arrangieren und deren Beweglichkeit in eine Stadt passt, die nicht mehr von verkapselten Geschichtssplittern beherrscht wird. Mein genau gleichaltriger Kollege in Kreuzberg, der mir von Berlinfilmen aus der Zeit um 1910 erzählt und sagt, dass die Zeit für ein eigenes Buch gekommen ist. Meine Freunde im Norden von Berlin, die ein Schreib- und Leseleben führen und herausfinden, wie Biographien in Berlin mit denen in Polen und im Osten verknüpft sind. Der Ort, an dem sie leben, entwirft ihr Leben mit. Sie sind, auf ganz unterschiedliche Weise, unfertig und empfindlich.

Nach Graz

Für mich verbinden sich die Unruhe und die Offenheit der Menschen, die ich in Berlin treffe, mit der Unruhe und Unbestimmtheit dieser Stadt. Ihr Leben ist so unvorhersehbar wie die Veränderungen der Umgebung, in der sie leben.
Ich habe Berlin immer im Gegensatz zur Provinz wahrgenommen, als Alternative zu den Städten, in denen ich gewohnt habe, und die—bis auf Paris—kleiner waren als Berlin. Ich habe mich gefragt, ob es nicht besser wäre, in Berlin zu leben. Vielleicht, weil ich immer sicher war, dass der längere und wichtigere Teil meines Lebens noch vor mir liegt. Über diese Frage denke ich nicht mehr nach—wenn ich noch einmal woanders hinziehe, dann wohl ans Meer und am besten nach Süden.
Stattdessen merke ich, dass ich die Stadt anders beobachte—oder weniger die Stadt als die vielen Plätze und Umgebungen, die sie ausmachen. Ich habe immer schon gerne Städte besucht, aber ich habe versucht, sie zu interpretieren, und das, was ich gesehen habe, historisch oder kunstgeschichtlich einzuordnen. Jetzt bin ich gelassener. Ich versuche nicht, die Essenz eines Ortes herauszufinden, sondern ihn als Szene, als Bühne für Bewegung wahrzunehmen. Ich lese, was ich sehe, nicht mehr so sehr als Ausdruck von etwas. Ich versuche eher zu erkennen, was darin zusammenspielt, wie sich die Menschen und Dinge bewegen. Das Besondere einer großen Stadt wie Berlin liegt darin, was sich dorthin und was sich von dort weg bewegen kann, was sie in Bewegung setzt und von was sie in Bewegung gesetzt wird. Und mich reizt mehr als die Geschichte, wie ich mich selbst in einer Stadt bewegen kann, wo und wie ich gehen oder fahren kann.
Vielleicht sind es gar nicht so sehr die Veränderungen in Berlin, vielleicht ist es mein anderes Leben in Graz, durch das ich Berlin anders wahrnehme. In Berlin merke ich, dass ich, wie ältere Männer in Westfalen sagen, ruhiger geworden bin.

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