Es gab in London noch einen ganz anderen Faden als agiles, nutzerbezogenes Arbeiten an Inhalten: Inhalte im digitalen Medienbusiness—Inhalt nicht als Service, sondern als Entertainment, als etwas das konsumiert wird. Auch hier war eindrucksvoll, wie professionell, mit welchem Tempo und wie konsequent die Personen, die wir kennengelernt haben, agieren und argumentieren, wobei sie immer das Gefühl vermitteln, dass sie in einer offenen Situation sind, und dass sie eine Zukunft beeinflussen wollen, die sie nicht vorhersagen können. In der digitalen Szene in London kann man beobachten, was schöpferische Zerstörung im Kapitalismus bedeutet. Man bekommt auch das ein wenig mulmige Gefühl, dass sich der Abstand zwischen den dynamischen Akteuren dort und den vielen rückwärtsgewandten Medienleuten hier in Österreich immer weiter vergrößern wird.

Der Abend bei Unruly und ein fast spontaner Besuch bei der Jamie Oliver Group hatten zum Thema, wie und mit welchen visuellen Inhalten man heute kommerziellen Erfolg hat, wie Entertainment im Netz aussieht. Dabei spielt Video die Hauptrolle.


Das Thema der Diskussion State of play: Mobile video content comes of age waren die Besonderheiten von mobilem Video. Diskutiert wurde vor allem die Vorlieben der Benutzer, also der Konsumenten, die bei YouTube und ähnlichen Plattformen aber oft auch Produzenten sind. Der Tenor des ganzen Abends wurde schon klar, als Jamie Toward sagte, dass man Smartphones am Körper und dass Männer sie in der Regel in der Nähe ihrer Genitalien tragen. Mobiles Video, darin waren sich die Teilnehmer einig, ist intimes, persönliches Video. Die Nähe zum Körper, zur Psyche, zu den Gefühlen, unterscheidet mobiles Video von älteren Formaten.

Intimität

Die Leute auf dem Podium bei unruly waren sich einig, dass bei digitalen Videos nicht die gestylten Formate Zukunft haben, sondern Videos, bei denen aus großer Nähe persönliche Geschichten erzählt werden. Die User lieben Stories, die das Alltagsleben erzählen und Videos, die Emotionen erregen oder zeigen, wie Menschen mit ihren Emotionen umgehen, zum Beispiel beim Sport. Der besondere Wert des mobilen Video liegt darin, dass man dabei sein kann, dass man etwas aus der Nähe erleben kann, dass das Gezeigte authentisch ist oder authentisch wirkt.
Interessant fand ich in diesem Zusammenhang die Bemerkung von Kate Fagan, dass Videos, die über Fans berichten, genauso gut angekommen wie Videos über die Sportveranstaltungen selbst beziehungsweise über professionelle Sportler. Mich erinnert das an die Content Marketing Devise Make Your Customer the Hero of Your Story.
Auf persönliche Videos lassen sich die Benutzer auch gerne lange ein. Susan Agliata von YouTube sagte, dass die erfolgreichsten Videos dort 40 Minuten dauern. In diesem Zusammenhang ist die Frage relevant, wie Erfolg, etwa für Werbekunden, gemessen wird. YouTube bewertet nicht wie oft, sondern wie viele Minuten eines Videos insgesamt gesehen werden. Gemessen wird also die gesamte Kontaktzeit, und die ist offenbar bei längeren Videos größer als bei kürzeren.
Mir ist an diesem Abend klar geworden worden, mit welcher Konsequenz sich das Mobile Video Business, vor allem natürlich YouTube, gegen das herkömmliche Fernsehen Werbegeschäft positioniert. Susan Agliata hat klar gesagt, dass YouTube seine Kunden dazu bringen will, wenigstens denselben Betrag, den sie bisher für Fernsehformate ausgegeben haben, in mobiles Video zu stecken. In diesem Zusammenhang wurde natürlich auch die Anstrengungen der großen Internetfirmen erwähnt, Events große Sportereignisse und andere Eventszu übertragen. Es geht darum Werbeerlöse zu Plattformen um zu lenken, auf denen jeder publizieren kann.

Niederschwelligkeit

Mir ist bei Unruly auch der Ausdruck Vernacular Video eingefallen. Damit hat Howard Rheingold schon vor Jahren Video als ein für jeden zugängliches Format beschrieben. Videos herzustellen war lange viel aufwändiger als zu schreiben beziehungsweise Texte zu veröffentlichen oder wenigstens zu verschicken. Heute ist Video tendenziell ein niederschwelligeres Medium als geschriebener Text.
Die Veranstaltung bei Unruly hat Lisa Moore für die UK Content Strategy Association organisiert, und zwar extra während unseres Besuchs in London. Auf dieser Veranstaltung haben wir Greg Burke von Jamie Oliver kennen gelernt, der uns dann gleich für den kommenden Freitag in die Produktionsräume von Jamie Oliver eingeladen hat. Wir haben dort dann einen Überblick über das gesamte Unternehmen und vor allem den Medienbereich erhalten.
Greg Burke stellt uns die Jamie Oliver Group vor
Verbindendes Element der Video-Veranstaltung bei Unruly und des Besuchs bei Jamie Oliver war die Rolle von Nähe und Authentizität. Bei Jamie Oliver haben wir erfahren, dass dort am besten die Videos funktionieren, bei denen sich der Meister selbst mit dem Handy bei der Arbeit aufnimmt.
Nebenbei: Durch meinen Sohn Jonathan habe ich inzwischen eine ganze Menge über die Welt professioneller Köche gelernt. Wenn ich es richtig sehe, dann führt Jamie Oliver sein Unternehmen so wie ein Küchenchef seine Küche. Er selbst ist für die Qualität der Inhalte und die Gesamtgestaltung verantwortlich. Er greift an den entscheidenden Stellen in die Produktion ein und drückt dem gesamten Geschäft seinen persönlichen Stempel auf.
Mit Content Marketing als einem eigenen Thema haben wir uns eigentlich in der ganzen Woche in London nicht beschäftigt. Aber Content Marketing findet genau in der Schnittstelle zwischen Content als Dienstleistung und digitalem Entertainment statt. Wir haben bei Jamie Oliver gesehen, wie man so etwas auf einem sehr hohen Niveau macht, und wie dabei das Stehen für Werte, der Verkauf von Produkten und Medienbusiness im Sinne der Vermarktung von Inhalten ineinandergreifen.
Mir ist in London auch bewusst geworden, dass wir uns im Studium intensiver mit diesem mobilen, persönlichen Formaten beschäftigen müssen. Wir müssen wissen, nach welchen Regeln da Geschichten erzählt werden und welche technischen Möglichkeiten dafür zur Verfügung stehen. An dem Abend bei Unruly spielte Facebooks Live-Video keine große Rolle, aber es ist hier sicher ein entscheidendes Format. Mit Hubert Weitzer und mit Birgit Parade würde ich gerne darüber diskutieren, wie wir mit diesen Entwicklungen im Videobereich umgeben sollen. Das betrifft natürlich auch die Produktion von Videos in unserer eigenen Lehre und für unsere eigene Kommunikation. Wir müssen selbst alltäglich mit Videos umgehen, ohne dabei dilettantisch und unprofessionell zu produzieren.

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