Leider berichtet Sebastian Bauer korrekt: ORF-Programmdirektor Wolfgang Lorenz sprach beim ORF Dialogforum auf dem Elevate Festival vom Scheiss-Internet, forderte die jungen Leute auf, sich da zu äußern, wo sie der ORF auch hören könne, und warf ihnen dann auch noch vor, nicht zu rebellieren. Ich saß selbst auf dem Podium und war zunehmend entsetzt. Lorenz, den sich die rechten Feinde der Meinungsfreiheit gerade als Zielscheibe ausgesucht haben, demontierte sich selbst und verhinderte damit übrigens nahezu jede Diskussion über das eigentliche Thema des Abends. Mich hat das ständig wiederholte Scheiss- nicht so sehr gestört wie der Vorwurf, dass sich die jungen Leute

ins Internet verkriechen.

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Heute habe ich (als Gast) eine Doppelstunde Medienethik unterrichtet. Nicht ungern, denn ich kann dabei an mein — unterbrochenes — Philosophiestudium anschließen. Ich glaube allerdings nicht, dass es so etwas wie eine eigene Medienethik gibt. Wenn man überhaupt ethische Regeln begründen kann, gelten sie überall, schon der Ausdruck Medienethik gehört für mich in eine gemeinsame Schublade mit Sexualmoral, Grundwerten und anderern Verlegenheitskomposita.
Trotzdem habe ich versucht, den Studenten so etwas wie Richtlinien oder Werte für soziale Medien vorzuschlagen. Ich bin allerdings nicht sicher, ob es sich dabei überhaupt um ethische Begriffe handelt, und vielleicht gehören sie auch nicht auf dieselbe Ebene. An drei ethischen Prinzipien kann man sich möglicherweise bei Webmedien orientieren:

  1. Transparenz
  2. Dialogbereitschaft
  3. Respekt

Keiner dieser Werte betrifft nur Online-Medien (aber woher sollten auch eigene Werte für Online-Medien stammen?) Aber alle drei gehen Online-Medien in einer besonderen Weise an.

Transparenz ist ein Wert, der bei anderen Medien und jenseits anderer Medien nur bedingt gilt, weil dort schlicht begrenzt ist, wieviel publiziert werden kann. In einer Zeitung erwarte ich keine Fussnoten; es ist auch nicht möglich, dass eine Journalistin alle Details ihrer Recherche publiziert. Online ist es dagegen möglich, die Genese einer Publikation mitzupublizieren, und auch wenn sich dafür nur wenige interessieren werden — es gibt keine Grund sie nicht zu veröffentlichen. So haben alle Leser/User wenigstens eine Gelegenheit nachzuvollziehen, wie ein bestimmtes Ergebnis zustande gekommen ist. Erst recht ist bei einem Online-Medium zu erwarten, dass alle möglichen Befangenheiten einer Autorin offen gelegt werden.

Dialogbereitschaft gehört wahrscheinlich zu jeder Form von Ethik; sie ist eine Voraussetzung ethischen Argumentierens. Soziale Medien bauen aber direkt auf ihr auf. Dialogbereitschaft bedeutet dabei, dass es immer möglich sein muss, dass Leser und Betroffene antworten. Ich muss also so arbeiten, dass ich dem anderen seine Fähigkeit zu antworten nicht nehme oder abspreche, etwa durch verletzende Polemik. Die Dialogbereitschaft kann erst aufhören, wo der Adressat nicht zum Dialog willens oder fähig ist. Soziale Medien sollten also vorsichtiger sein als herkömmliche Massenmedien, die nicht auf Antworten ihrer Nutzerinnen angelegt sind; bashing ist in ihnen mindestens schlechter Stil, auch wenn sie dadurch gegenüber der älteren Konkurrenz an Prägnanz verlieren.

Respekt ist für mich der schwierigste der drei Begriffe, aber der entscheidende. Mit Respekt meine ich Rücksicht auf die Bereitschaft oder Fähigkeit, Publikationen über sich zu ertragen. Warum ist es verwerflich, Hinrichtungsvideos zu publizieren oder anzusehen? Es wird dabei etwas veröffentlicht, das nicht öffentlich gemacht werden soll, die Publikation ist ein Teil der Entwürdigung, die das eigentliche Ziel jeder Hinrichtung ist. Es wird ein Tabu gebrochen — vielleicht geht es hier um einen Bereich jenseits oder diesseits einer rationalen ethischen Argumentation. Respektlos ist es aber auch — um ein viel alltäglicheres Beispiel zu nennen –, in Konversationen einzugreifen, um ein Produkt zu verkaufen. Die Frage des Respekts stellt sich bei Online-Medien besonders heftig, weil sie die tradionellen Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem verschieben oder sogar aufheben. Schon die Publikation eines Namens oder Bildes kann respektlos sein.

Sicher kann man Transparenz, Dialogbereitschaft und Respekt nicht voneinander trennen. Die Perspektive ist bei diesen drei Prinzipien aber unterschiedlich: Transparenz betrifft die Autorin selbst, Dialogbereitschaft ihr Verhältnis zu ihrem Publikum und Respekt die Beziehung zu Dritten, über die publiziert wird. Vielleicht forden sich die drei Werte deshalb gegenseitig.

[Letzte Version: 7.6.2007]

Brian Stelter beschreibt in der New York Times, wie junge Leute in Amerika sich über den Vorwahlkampf, vor allem über Barack Obama informieren: Finding Political News Online, the Young Pass It On [via Sebastien Provencher]. Fast wie in einem Lehrbuch zeigt der Bericht, wie soziale Medien funktionieren: Empfehlungen durch die User in sozialen Netzwerken treten an die Stelle der Filterung und Sortierung durch Journalisten in den klassischen Medien. Eine Person gibt ein Link an die nächste weiter, und entsprechend dem Prinzip der six degrees of separation erreicht eine Nachricht ihre Adressaten.

If the news is important, it will find me,

sagt jemand von den befragten Studenten. Mathew Ingram hebt diesen Satz in seiner Analyse von Stelters Artikel hervor. Wie Ingram finde ich, dass jeder Medieninteressierte Stelters Artikel lesen sollte.

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Henry Jenkins unterrichtet am MIT Medientheorie und beschäftigt sich intensiv damit, wie media literacy vermittelt werden kann. (Da mich dieses Thema immer mehr interessiert, steht er schon länger auf meiner Liste zu lesender Autoren.) Einige Gedanken/Begriffe aus seinem Work in Progress WHAT WIKIPEDIA CAN TEACH US ABOUT THE NEW MEDIA LITERACIES [via hrheingold’s bookmarks]:

  1. Medienkompetenz im Vor-Web-Zeitalter war auf Rezeptions- und Ausdrucksfähigkeit gerichten, heute liegt der Akzent auf Kommunikation und Partizipation. (Historisch stimmt das nur bedingt; die rhetorische Tradition, in der wir ja alle stehen, hat immer Wert auf Teilhabe am öffentlichen Leben gelegt.)

  2. Die Kompetenzen, die für die Kommunikation im Web wichtig sind, unterscheiden sich nicht grundsätzlich von den Fähigkeiten, die man braucht, um mit herkömmlichen Medien umzugehen; sie bauen darauf auf. Das entspricht meinen Eindrücken im Unterricht und z.B. auch bei Barcamps. Mit den neuen Medien gehen die Leute am erfolgreichsten um, die auch mit den klassischen Medien am produktivsten arbeiten. (Und umgekehrt! ) Allerdings muss dazu die technische Schwellenangst überwunden werden.

  3. Schlüsselrolle des informellen Lernen: Die meisten lernen außerhalb der Bildungseinrichtungen, mit Online-Medien umzugehen. Das dürfte nicht nur damit zusammenhängen, dass die Lehrer an Schulen und Hochschulen diese Kompetenzen nicht vermitteln können oder dürfen (und stattdessen nicht selten erkennbar überholte Kompetenzen vermitteln), sondern mit dem dezentralen und partizipatorischen Charakter dieser Medien. (Dazu sehr gut Chris Langreiter und Gernot Tscherteu (pdf) !)

  4. Bedeutung der Transparenz für soziale Medien. Die Wikipedia unterscheidet sich von den üblichen Enzyklopädien auch dadurch, dass jeder redaktionelle Schritt nachvollzogen werden kann, sie ist selbstreflexiv, wie Jenkins schreibt oder zitiert. Auch das ist eine der Qualitäten, durch die das Web den Print- und Broadcastmedien radikal überlegen ist.

  5. Spielerisches Lernen: Medienkompetenz erwirbt man, indem man mit den neuen Medien spielt. Der für mich schönste Satz in Jenkins Aufsatz:

Just as young people coming of age in a hunting based culture learn by playing with bows and arrows, young people coming of age in an information society learn by playing with information.

Ein paar Gedanken, mit denen ich zur Participation 2.0 fahre. Es sind globale Formulierungen, die ich in dieser Allgemeinheit vor allem als Hilfsmittel/zur Selbstorientierung verwenden möchte. Ich bin gespannt, ob ich sie am Sonntag nach der Veranstaltung konkretisieren kann, oder ob sie sich als nutzlos herausstellen.

Zum Thema Web, Politik, Partizipation fallen mir spontan vier Dinge ein, sie liegen auf unterschiedlichen Ebenen, und ich weiß nicht, ob wirklich ein innerer Zusammenhang zwischen ihnen besteht:

  1. Vom Nerd zum Aktivisten: Die Leute, die das Internet und das Web entwickeln, sind keine apolitischen Techniker, sondern sie entwickeln ein Kommunikations- und Interaktionsmedium. Viele von ihnen haben sich immer zugleich politisch engagiert, viele von ihnen verstehen ihre Aktivität im Netz als politisch. Wenn mehr Leute erkennen, dass das Web eine Mitmach- und Do-it-yourself-Medium ist und daran Spaß haben, werden sie sich allein dadurch auch politisch engagieren. Die Entwicklung des Web schwappt gerade von den Hardcore-Nerds zu den crowds, den Mengen der User über. Immer mehr Leute erkennen, dass Web-Technik nicht als Werkzeug für Spezialisten entwickelt wurde, sondern für Bastler: Man muss sich nur nehmen, was man braucht, und es so weiterentwickeln, wie es einem gefällt.

  2. In einer Gesellschaft, für deren Organisation virtuelle Objekte wichtiger sind als reale Objekte, verändert sich die Repräsentation und damit die Macht. Für alle sozialen Strukturen, die wir kennen, war vor allem die Verteilung der Gesellschaftsmitglieder im Raum charakteristisch, sie hing davon ab und bestimmte, wer wie und mit wem kommunizierte. Macht war und ist daran gebunden, Menschen bzw. soziale Netze in einem Raum zu repräsentieren. Am meisten Macht hat, wer das größte Territorium bzw. das Territorium mit den meisten Ressourcen kontrolliert. (Ich bin hier von Bruno Latour und den Theoretikern der Actor Network Theory abhängig, mit denen ich mich in den kommenden Jahren intensiv beschäftigen möchte.) Wir nehmen gerade an Prozessen teil, in denen virtuelle Objekte und ein virtueller Raum neben den physikalischen treten und der virtuelle Raum die Kontrolle über den physikalischen übernimmt. Wahrscheinlich werden auch in diesem virtuellen Raum die sozialen Beziehungen über Objekte organisiert und stabilisiert, aber sie sind sicher von ganz anderer Art als im physikalischen Raum. Man kann z.B. die Frage stellen, ob man Macht im herkömmlichen Sinn der Repräsentation von Raum und Resssourcen im virtuellen Raum überhaupt braucht.

  3. Die politischen Lagerbildungen aus dem Industriezeitalter greifen nicht mehr; unsere Parteien und Strukturen sind diesem Zeitalter aber noch immer verhaftet. Es ist offensichtlich, dass das, was man bisher als Politik bezeichnet, und was die Franzosen politique politicienne nennen, große Schwierigkeiten mit dem Web und den Informationstechniken hat, zu denen das Web gehört. Die Symptome sind zahlreich — von den Anti-Weblogs von Politikern wie Buchinger bis zur Datenparanoia von Schäuble und Co. Dieser Art von Politik geht es um Machtgewinn, Machterhaltung und Machtgebrauch im physikalischen Raum, in Territorien. Dabei sind die alten Industrien und Wirtschaftsstrukturen für sie weiter maßgeblich, also Strukturen, die gerade von einer vernetzten, dezentralen Infrastruktur abgelöst werden. Bezeichnenderweise ist hier die Sozialdemokratie am konservativsten, weil sie am stärksten mit den Arbeitern, Angestellten und auch mit den Bossen aus dem Industriezeitalter assoziiert ist.

  4. Die wichtigen politischen, sozialen und ethischen Fragen der Gegenwart verlangen aufgrund ihrer Komplexität nach den Mitteln des Web. Man kann das Web als eine Technik oder als ein Medium verstehen, dass Kommunikation in einer überkomplexen Realität ermöglicht. Dezentrale, hypertextuelle Kommunikationsstrukturen werden Verhältnissen gerecht, die sich prinzipiell nicht mehr unter einer Perspektive totalisieren lassen. Das Web ist am CERN erfunden worden, nachdem alle Versuche, Information und Kommunikation dort hierarchisch zu organisieren, gescheitert waren. Man kann die Gründungsgeschichte des Web vielleicht als eine Metapher für das verstehen, was das Web heute in der globalen politischen Kommunikation leisten müsste, nämlich eine lose und flexible Verknüpfung von unterschiedlichsten und weltweit verteilten Kommunikationspartnern und Datenquellen, die so etwas wie eine wissensbasierte politische Arbeit erlaubt. Politik und Partizipation im Web darf nicht dazu dienen, das Netz für eigentlich schon untergegangene Politikmodelle zu funktionalisieren, sondern sie sollte über eine Sozialisierung des Cyberspace auf die Politik in der Realität außerhalb des Web wirken.

Ich habe mich in den letzten Wochen weiter mit der „Actor-Network-Theory“ (ANT) beschäftigt, wenn auch noch nicht so intensiv, wie ich es wollte. Noch mehr als vor ein paar Wochen sehe ich in ihr eine Möglichkeit, Phänomene im Bereich der „neuen Medien“ und des Web zu analysieren, ohne sich von eingefahrenen Unterscheidungen wie der zwischen „Technischem“ und „Sozialem“ blind machen zu lassen.
Es handelt sich bei der ANT nicht um eine Theorie im Sinne einer Menge von Aussagen über die „Realität“. Ich verstehe die ANT eher als eine Methode, um soziale Wirklichkeiten zu beschreiben und zu analysieren. Ob eine solche Analyse dann „richtig“ ist, was sie „wert“ ist, hängt von ihren Beziehungen zu ihrem Gegenstand und nicht von der Richtigkeit der theoretischen Grundannahmen der ANT ab.
Allerdings — auch zur ANT gehören Verallgemeinerungen über die Gesellschaft. Ich versuche, provisorisch einige davon zu formulieren, und bitte bessere Kenner dieser Theorie um Korrekturen. Ich hoffe, dass sich diese Annahmen als Ausgangspunkt konkreter Analysen verwenden lassen. Die Texte, auf die ich mich beziehe, habe ich hier gesammelt.
(1) Zu sozialen Strukturen gehören immer sowohl menschliche wie nicht-menschliche Akteure. Die nicht-menschlichen Akteure, die „Objekte“, haben eine entscheidende Funktion bei der Stabilisierung von sozialen Strukturen. Die Objekte sind nicht nur Projektionsschirme für soziale Verhältnisse, sondern sie ermöglichen die sozialen Verhältnisse erst. Der portugiesische Fernhandel, den John Law in einer berühmten Studie (pdf) beschrieben hat, hätte zum Beispiel ohne die Beobachtung der Sterne nicht stattfinden können; die Sterne lassen sich aus dem Netzwerk „Fernhandel“ nicht herauslösen.
(2) Soziale Strukturen existieren nicht unabhängig von Akteuren, sondern sie sind „performativ“, sie werden „aufgeführt“ oder „ausgeführt“. Etwas überdeutlich formuliert: Sie werden immer wieder neu erfunden, neu ausgehandelt und bestimmt. In dieses Aushandeln investieren die Akteure ihr Wissen über die Gesellschaft, ihre „Soziologie“.
(3) In jedem sozialen Netz interagieren unterschiedliche menschliche und nichtmenschliche Akteure. Die Voraussetzung dafür sind Übersetzungen, die überhaupt erst eine Kommunikation zwischen den verschiedenartigen Beteiligten ermöglichen. In solchen Übersetzungsprozessen werden Repräsentanten der verschiedenen Gruppen von Akteuren bestimmt. Die Übersetzungen machen Unvergleichbares vergleichbar und integrieren es damit in ein Netzwerk. Durch die Übersetzung bestimmt oder erzeugt das Netzwerk seine besondere Realität. Es wird festgelegt was real und relevant, was unwirklich und unwichtig ist. Es wird auch festgelegt, welche Ebenen die „Realität“ bilden, wo zum Beispiel bei Medien die Grenze zwischen „Technik“ und „Inhalt“ liegt.
(4) Soziale Strukturen oder soziale Netze dienen dazu, Kontrolle auszuüben, sie sind immer Instrumente der Macht. Bei den Übersetzungsprozessen, in denen sich ein Netzwerk konstituiert, wird bestimmt (verhandelt), wer wen kontrolliert, wer für wen spricht, wer wen oder was repräsentiert. Es gibt keine „unschuldigen“ oder „neutralen“ Übersetzungen, bei denen keine Macht ausgeübt würde.
(5) Zu den Akteuren, die an einem Netzwerk beteiligt sind, können wiederum Netzwerke gehören; sie verhalten sich aus der Perspektive des Netzwerks, in das sie integriert werden, wie „black boxes“. Die makrosoziologische Ebene unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der mikrosoziologischen Ebene; damit Netzwerke auf einer Makroebene funktionieren, müssen die Netzwerke, die in das „Makronetzwerk“ integriert werden, Komplexität so weit reduzieren, dass sie zu „einfachen“ Akteuren werden können.
Im Zentrum der ANT steht der Begriff der Übersetzung, und im Grunde interessiert mich, wie sich dieser Begriff bei der Analyse von Kommunikation im Web verwenden lässt. Übersetzungen sind eine Voraussetzung für die Bildung der neuen „soziotechnischen“ Netzwerke, an der wir gerade teilnehmen. Mit dem Instrumentarium der ANT lassen sich, wie ich glaube, solche Übersetzungsprozesse qualifiziert beschreiben, ohne die immanente Logik der neuen Netzwerke absolut zu setzen (sie also als „natürlich“ anzusehen), und ohne sie zu ignorieren (sie also als bloße „Technik“ zu verstehen).
Beispiele für solche Übersetzungen lassen sich leicht finden: Schon indem ich blogge oder mich bei facebook beteilige, übersetze ich meine analoge Identität (die nichts Natürliches, Vorgegebenes war) in eine „netzkompatible“ Version. Man kann die Arbeit an der Wikipedia als einen großen Übersetzungsprozess verstehen, in dem „enzyklopädisches Wissen“ in eine für das Web geeignete Form übertragen wird. Ohne nichtmenschliche Beteiligte wie Rechner und die Internet-Infrastruktur wären diese Übersetzungsprozesse nicht möglich und auch nicht nötig. Aber keiner dieser Prozesse ist „nur“ technisch. In ihnen allen werden soziale Beziehungen neu ausgehandelt, und wir verwenden unser Wissen über soziale Beziehungen in diesen Verhandlungen.
Für tatsächliche Analysen im Sinne der ANT wäre es wohl vor allem wichtig herauszuarbeiten, wie bei diesen Übersetzungsprozessen Äquivalenzen hergestellt werden und nach welchen Kriterien „überprüfbare“ Realitäten definiert werden (z.B. durch Googles Page Rank, der als „objektives“ Kriterium funktioniert.) Die Blogospäre wäre ein gutes Beispiele; interessanter wäre aber vielleicht die Analyse der Bildung von virtuellen Gruppen und Organisationen.
Das liest sich vielleicht kryptisch. Ich werde mich um Klärung bemühen und freue mich über Kommentare. Etwas weiter ausgearbeitete Gedanken zur Untersuchung von sozialen Medien mithilfe einer „Soziologie der Übersetzung“ würde ich gerne bei einer Gelegenheit wie dem nächsten Barcamp in Wien vorstellen.

Das Gebiet, das ich unterrichte — im Augenblick bezeichne ich es am liebsten als „soziale Medien“— umfasst mehr oder weniger das, was man als Online-Journalismus und Online-PR bezeichnet. Auf meiner geistigen Landkarte grenzt es an zwei andere Gebiete, auf der einen Seite an die Technik und auf der anderen Seite an die „Soziologie“ — damit meine ich die theoretische Analyse und empirische Untersuchung der gesellschaftlichen Rolle, die Online-Kommunikation spielt.

Was die Technik angeht, ist mir relativ klar, welche Verbindungen es zum Thema „soziale Medien“ gibt; allerdings fällt es mir hier schwer, die Grenzen genau zu bestimmen. Was muss eine angehende Online-Journalistin darüber wissen, wie ein Content Management System funktioniert? Ist es für jemand, der sich mit Online-PR beschäftigt, wichtig, die Unterschiede zwischen den Newsfeed-Formaten RSS und Atom zu verstehen? Nützt ihr Wissen über REST oder das end-to-end-Prinzip? Wie auch immer — es ist klar, um welche Themen und Techniken es hier geht, und man kann in jedem Einzelfall überlegen, welche Rolle das technische Wissen für die praktische Arbeit spielt.

Anders ist es für mich bei der sozialen Dimension des Online-Publishing. Hier ist mir völlig unklar, wie die Verbindung zwischen Theorie und Praxis aussieht oder aussehen kann. Wo wird soziologisches Wissen praktisch relevant? Welche Rolle spielen hier für den Praktiker wissenschaftliche Theorien? Geht es hier um Soziologie oder eher um Wissen, das sich auf ganz unterschiedliche Themen (z.B. Ökonomie, Politik) bezieht? Wo ist dieses Wissen mehr als eine relativ willkürliche Interpretation, eine Art ideologischer Begleitung dessen, was ohnehin geschieht?

Seit ich unterrichte, suche ich nach soziologischen Theorien, die mir dabei helfen, diese Fragen überhaupt richtig zu stellen, so dass ich einerseits besser begründen kann, was ich im Unterricht tue, und andererseits Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet begründen kann. Im Grunde vermisse ich bei jeder Diplomarbeit, die ich betreue, ein brauchbares theoretisches und methodisches Fundament.

In den letzten Wochen habe ich mich zum ersten Mal und nur sehr oberflächlich mit der Actor-Network-Theory beschäftigt. Jetzt überlege ich, ob der Teil meiner inneren Landkarte, den ich oben beschrieben habe, sich vielleicht aus einer falschen Perspektive ergibt — denn dieses Bild setzt voraus, es gebe so etwas wie eine Welt eigener sozialer Gesetze oder Regeln, und diese ließen sich soziologisch mehr oder weniger richtig und genau beschreiben oder rekonstruieren.

In der vorletzten Woche habe ich einen kurzen Text übersetzt, den Bruno Latour zusammen mit einer Studentin geschrieben hat. Der Text beschreibt einen Kühlschrank in einem mikrobiologischen Labor, und zwar als ein Objekt, ohne das die gesamte wissenschaftliche Arbeit in dem Labor bis hin zur Klassifikation der dort untersuchten Lebensformen und zur Organisation der Kompetenzhierarchie unter den Wissenschaftlern nicht stattfinden könnte. Der Kühlschrank ist das, was Latour oft als „nichtmenschlichen Akteur“ bezeichnet.

Die Übersetzung war für mich ein Anlass, Latour und seinen theoretischen Weggefährten kennen zu lernen. Zum Glück sind viele Texte Latours online zugänglich. (Weitere Texte werde ich bei Bibsonomy unter dem Tag ANT sammeln.)

Zunächst fasziniert mich an Latour die Konzentration auf Artefakte. Das Web besteht nicht nur aus Menschen, sondern auch aus Artefakten, und so etwas wie ein soziologisches Herangehen an das Web kann nur gelingen, wenn es die technische Ebene nicht durchstreicht. So wie der Kühlschrank, den Latours Text beschreibt, ein mikrobiologisches Labor organisiert (und nicht nur Ausdruck einer Organisation ist, die auch ohne ihn auf einer rein „sozialen“ Ebene existieren könnte), so organisieren Webanwendungen und Mittel der Webkommunikation inzwischen die unterschiedlichsten sozialen Zusammenhänge, von virtuellen Teams bis zur Blogger-Community. Alle diese Artefakte existieren nicht isoliert — der Kühlschrank ist noch kein Labor — aber sie sind auch nicht nur Ausdruck oder Niederschlag einer „hinter“ ihnen liegenden sozialen Wirklichkeit.

Viel interessanter als die Konzentration auf die Artefakte ist aber das Verständnis von „Gesellschaft“, das hinter ihr steht. Latour begreift Gesellschaft als Vergesellschaftung von Heterogenem, als Menge der Aktivitäten die unterschiedliche Realitäten oder Realitätsebenen in Verbindung zueinander bringen. Die soziale Aktivität besteht darin, Netzwerke aus verschiedenartigen Akteuren zu erzeugen. Dabei wird jede der Komponenten eines solchen Netzwerks transformiert oder übersetzt. Latour und die anderen Vertreter der Actor Network Theory bezeichnen ihren Ansatz auch als „Soziologie der Übersetzung“.

Das soziologische Wissen ist dabei nicht in erster Linie Sache der Soziologen, die die Gesellschaft beobachten; es liegt zunächst bei den Akteuren selbst, bei denen, die Wissen über Vergesellschaftung verwenden oder entwickeln, um Gesellschaft — bescheidener gesagt: Netzwerke — zu erzeugen. (Hier schließt Latour an die Ethnomethodologie Harold Garfinkels an.) So ist jeder Wissenschaftler oder Techniker, der Artefakte entwickelt, auch ein — guter oder schlechter — Soziologe, denn er entwickelt Apparate oder Konzepte in einem sozialen Netzwerk und verwendet dabei sein Wissen über dieses Netzwerk.

Zurück zum Ausgangsmodell: Ausgehend von der ANT würde man das Soziale nicht als eine eigene „Schicht“ neben denen der Technik und der Praxis verstehen, und auch Technik und Praxis ließen sich nicht als relativ unabhängige „Schichten“ beschreiben. Die Formen der Online-PR oder des Online-Journalismus ließen sich als „Netzwerke“ beschreiben, die Komponenten unterschiedlicher Art zu einem Feld „vergesellschaften“ und dabei transformieren, zu diesem Feld gehört so etwas wie ein bestimmtes „soziales Wissen“. Ein erfolgreicher Blogger ließe sich dann auch als ein guter Soziologe verstehen, der dazu in der Lage ist, ein Netzwerk aufzubauen und zu organisieren.

Ich bin noch lange nicht weit genug in die ANT eingedrungen, um mit wirkliche Forschungsprojekte vorstellen zu können, bei denen man sie auf dem Gebiet der sozialen Medien verwendet. Aber sie erscheint vielversprechend. Jetzt hoffe ich auf ein paar ruhige Urlaubstage mit Zeit zu ausgedehnterer Lektüre.

In den USA machen Watchdog-Gruppen politische Vorgänge mit Mashups transparent. Ein Beispiel zeigt, wie Lobbies mit Spenden verhindern, dass kalifornische Abgeordnete für Umweltschutz stimmen:

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Für Mashups mit öffentlich zugänglichen Daten benötigt man Application Programming Interfaces (APIs): Schnittstellen, über die sich die benötigten Informationen automatisiert beschaffen lassen.

Wired hat politischen Mashups einen Artikel gewidmet: Web Mashups Turn Citizens Into Washington’s Newest Watchdogs; er beginnt:

Tread carefully, politicians — concerned citizens are watching your every move on the web. Their tools? Custom data mashups that use public databases to draw correlations between every vote cast and every dollar spent in Washington.

Den Hinweis verdanke ich dem ProgrammableWeb-Blog:
„Can web mashups keep politicians on their toes?“

ProgrammableWeb ist ein laufend aktualisiertes Verzeichnis von APIs, die sich für Mashups nutzen lassen; es bietet außerdem viele zusätzliche Informationen zum Thema Mashups. Die Site listet neun APIs zu Regierungsausgaben in den USA. Nachahmswerte Highlights: OMB Watch/fedspendin.org und Follow The Money

Ein paar Bemerkungen zum PR-Tag Zukunft Online-PR!? in Dieburg. Für mich war die Veranstaltung eine Fortsetzung der PR-bezogenen Sessions des BarCamp Kärnten. Thema war PR im Web 2.0.

Während eines informativen halben Tag kamen unterschiedliche Aspekte zur Sprache, fast durchgängig auf hohem Niveau. Zusammen lassen sich die Präsentationen und Diskussion als eine Einführung in die PR (Post-PR?, Anti-PR?) mit den Mitteln des aktuellen Web lesen. (Meine eigenen, unvollständigen Notizen hier.) Thomas Pleil, der in Dieburg Online-PR unterrichtet, hielt sich meist im Hintergrund. So kann man nicht entscheiden, ob er sich selbst diskret an der Regie beteiligte oder seine Studentinnen und Studenten so gut ausgebildet hat, dass sie ein solches Event perfekt organisieren können.

Vom ersten Teil der Veranstaltung, in dem Studierende Fallstudien präsentierten, bis zu der abschließenden Diskussion über Ethik in der Online-PR spannte sich ein Bogen. Die Fragestellungen wurden zunehmend vertieft. Es ging eigentlich durchgehend um das Spannungsverhältnis zwischen symmetrischer Kommunikation, wie sie im Web möglich wird, und der Funktionalisierung von Kommunikation für strategische Ziele einer Organisation.

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Dirk Baecker erläutert sein Konzept der catjects, mit dem er sich direkt oder indirekt schon in einer ganzen Serie von Postings für das System One – Journal beschäftigt hat. Baecker versucht, die entstehende Netzgesellschaft – er nennt sie next society – systemtheoretisch zu interpretieren – oder die Systemtheorie ausgehend von den sozialen und technischen Entwicklungen seit der Erfindung des Web zu reinterpretieren. Er spricht von der

idea of the network synthesis of social action with respect to the next society superposing itself to the tribal, the ancient, and the modern society. [System One – Next Society’s Hypokeimenon]

Den Begriff der next society übernimmt Baecker von Peter Drucker:

We call what is emerging „the next society“ to honour Peter F. Drucker who gave it not only that name but also looked in the consequences of it for management and organization (see his book „Managing in the Next Society“, New York 2003). [System One – The Next Society]

Man kann Baeckers neue Texte auf verschiedenen Ebenen interpretieren – als Diskussion soziologischer Grundbegriffe wie Handlung und System, als Beiträge zu einer materialen Gesellschaftstheorie, die sich mit der Evolution sozialer Formationen beschäftigt, und auch als eine Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Ich lese sie als eine Reflexion über Kategorien, mit denen sich die Kommunikation im Netz als soziales Phänomen beschreiben lässt.

Hier möchte ich nur drei Themen hervorheben, die für eine Theorie des Web Publishing relevant sind: das der Kontrolle der Kommunikation im Netz, das des medialen Charakters des Web und das – fundamentale – Thema der Festlegung von konstanten oder stabilen Einheiten im Web.

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