Gestern abend habe ich am Wahlkampf-Auftakt der ÖVP teilgenommen. Er bot Willi Molterer die Bühne für eine große Motivationsrede an seine Partei. Die Veranstaltung fand in Helmut-List-Halle in Graz statt. (Berichte: Walter Müller im Standard, Klaus Höfler in der Presse, Claus Albertani in der Kleinen Zeitung; gebloggt hat außer mir nur Lukas Mandl, der das aber als ÖVPler tat und übrigens leider die URLs seiner Posts im RSS-Feed versteckt.) Mich hatte Alexandra Nussbaumer von der ÖVP eingeladen und diese Einladung nachmittags noch mal am Handy wiederholt.

Die ÖVP hat mich als Blogger eingeladen, und als jemand, der nicht zu Ihrer Partei gehört. Dabei ist es den zuständigen Leuten in der ÖVP sicher vor allem wichtig, dass die Szene, zu der sie mich zählt, überhaupt präsent ist. Wenn man an einer solchen Veranstaltung teilnimmt, ist man also auch Teil des Marketing oder der PR der Partei (wobei ich da meine Bedeutung nicht überschätze). Ich glaube, dass andere unabhängige Blogger nicht gekommen sind, weil sie sich nicht funktionalisieren lassen wollten, vielleicht auch, weil ihnen nicht klar ist, was sie bei einer solchen Großveranstaltung überhaupt sollen. Ich habe — nach einigem Zögern — teilgenommen, einerseits, weil mich die ÖVP nach der Teilnahme an mehreren ihrer Großveranstaltungen zunehmend interessiert und langsam zu einem meiner Themen wird, zum anderen weil ich gerne mit Leuten wie Michi Mojzis und Alexandra Nussbaumer Kontakt halten möchte, um mit ihnen über politische Kommunikation sprechen. Ich will auch nicht verhehlen, dass mir im Augenblick ein Kanzler Molterer bei weitem sympathischer wäre als ein Regierungschef im Auftrag einer Boulevardzeitung, die durch Ausländerfeindschaft, antisemitische Töne und eine gnadenlos dumpfe Anti-EU-Kampagne hervorgetreten ist.

Der Grazer Bürgermeister Nagl leitete kurz ein. Die bemerkenswerteste Aussage Nagls war, dass man Graz als Veranstaltungsort gewählt habe, weil hier eine besonders interessante politische Konstellation gelungen sei — die schwarz-grüne Koalition, die aber nicht ausdrücklich genannt wurde. Es folgte betulich der steirische ÖVP-Chef Schützenhöfer. Molterer präsentierte sich viel entschlossener und aggressiver, als ich ihn bei anderen Veranstaltungen erlebt habe; zum ersten Mal gelang ihm die Selbstinszenierung. Er konnte die versammelten ÖVP-Anhänger begeistern. Zu Beginn der Veranstaltung hatte ich — etwas betäubt durch das wilde Klatschen und die laute Musik und verwirrt von der Unmenge rot-weiß-roter Schals — den Eindruck, dass die ÖVPler angesichts schlechter Umfrageergebnisse laut gemeinsam im Wald pfiffen. Nach Molterers Rede hielten es offenbar die meisten für möglich, die Wahl tatsächlich für sich zu entscheiden.

Die wichtigsten Adressaten der Rede waren die Funktionäre. Wähler außerhalb der traditionellen Klientel stehen jetzt nicht im Fokus. Nicht nur, weil Parteien im Wahlkampf vor allem die eigene Wählerschaft mobilisieren müssen. Die aktuellen Umfragen zwingen zum Kampf um die Stammwähler, denn die ÖVP liegt weit hinter den Ergebnissen, die sie früher erreicht hat.

Andere Parteien wurden nur als Gegner erwähnt. Es fiel kein Satz über mögliche Koalitionen — außer Nagls Anspielung auf die schwarz-grüne Zusammenarbeit in Graz. Wenig verwunderlich ist, dass es der ÖVP vor allem darauf ankommt, nicht von der Macht verdrängt zu werden — Molterers Es geht um alles! war die Kernbotschaft. Programmatische Aussagen spielen im Augenblick allenfalls eine sekundäre Rolle. Betont wurden traditionelle Werte. Den beinahe lautesten Applaus bekam Molterer, als er die Bedeutung der Familie herausstrich.

Die ÖVP-Führung sucht den Schulterschluss mit der Basis und den Anschluss an ihr klassisches Wählerpotenzial; sie will sich nicht durch eine Vision profilieren. Eher aus Nebensätzen und Nebentönen lässt sich erkennen, wie wichtig die Wirtschaftspolitik für Molterer ist, und dass für ihn ein ausgeglichener Haushalt ein Hauptziel bleibt. Wenn ich mich richtig erinnere, wurde die Inflation, die immer wieder zu einem Hauptthema im Wahlkampf erklärt wird, nicht mit einem Satz erwähnt.

Molterer hat betont, dass es für die ÖVP entscheidend ist, die bürgerlichen Wählerschichten zu erreichen. Mir kam die Partei auch dieses Mal viel eher ländlich, kleinbürgerlich, und vor allem katholisch geprägt als bürgerlich vor. Molterer trifft die Stimmung der traditionellen Mitte der Partei — vermutlich besser als sein Vorgänger, dem man den Vertreter des kleinen Mannes nicht so recht abnehmen konnte. Dass es auf Dauer für die ÖVP reicht, sich politisch so sehr auf ihre traditionelle Klientel zu konzentrieren, halte ich für fraglich. Die ÖVP muss Bündnisse mit anderen Gruppen oder Milieus schließen, die in Großveranstaltungen wie der gestern keine Rolle spielen.

Als jemand, der sich für Dialogmedien und neue Formen der Kommunikation interessiert, komme ich mir bei einer solchen Veranstaltung nach wie vor als Fremdkörper vor. Sie repräsentiert das, was lange für Politik gehalten wurde — und wenn zwei Wörter nicht dazu geeignet sind, dieses Verständnis von Politik zu beschreiben, dann sind es Dialog und Konversation. Eine Wahlkampfauftakt-Veranstaltung wie gestern dient der Mobilisierung von oben und nicht dazu, auf die unten, auf die vielen, zu hören. Die ÖVP würde sich nicht um kleine Gruppen wie die Blogger bemühen, wenn sie nicht selbst erkannt hätte, daß diese Form der Mobilisierung heute nicht mehr reicht, um Mehrheiten zu finden. In ihrem Wahlkampf riskiert sie neuen Methoden der politischen Organisation aber wohl noch nicht.