Vor ein paar Tagen habe ich das lange erhoffte Invite zu Branch bekommen und gleich eine Branch gestartet. Nach dieser ersten eigenen Erfahrung erscheint mir Branch noch interessanter als vorher. Branch repräsentiert für mich—ähnlich wie das bei Google leider gescheiterte Wave—eine eigene, neue Gattung oder ein neues Genre von Online-Texten: im Ansatz dialogisch (man kann monologisch bloggen, aber nicht branchen) und zugleich hypertextuell, weil verschiendene Zweige miteinander in einer nicht-hierarchischen Weise verknüpft sein können.

Thomas Pleil hat in einem ausführlichen Post über die ersten Erfahrungen mit Branch reflektiert. Ich kann mich seinen Beobachtungen anschließen. Über Branch allgemein habe ich schon vor einiger Zeit gebloggt—damals noch ohne eigenen Zugang zu dem Service.
Hier interessiert mich ein sehr spezieller Aspekt von Branch: die Organisation der Statements, also der Textteile, die jeweils eine Autorin oder ein Autor verfasst. Ich werde sie hier Takes nennen, mit einem Ausdruck aus der Konversationsanalyse, durch die ich auf diese Gedanken gekommen bin. Wie Folgen von Äußerungen organisiert sind, charakterisiert die verschiedenen Formen der menschlichen Interaktion.
Für Branch ist charakteristisch,

  1. dass ein Gesprächspartner eine Sequenz initiiert, indem er andere einlädt,
  2. dass die Länge der Takes begrenzt ist,
  3. dass es nur einen Typ von Äußerungen gibt,
  4. dass jeder Teilnehmer an einer Konversation bei jedem Take verzweigen, also branchen kann—wobei er jeweils selbst Teilnehmer zu der neuen Branch einladen muss.

Von Blogs unterscheiden sich Branches dadurch, dass es nicht zwei unterschiedliche Texttypen—Post und Kommentar—gibt; von Twitter dadurch, dass die aufeinander folgenden Takes aufeinander bezogen sind, und anders als bei Blogs und bei Twitter müssen bei Branches mindestens zwei Autorinnen oder Autoren zusammenarbeiten, so dass es eine gemeinsam intendierte Interaktion gibt. Branches haben Ähnlichkeit mit dialogischen Podcasts oder mit Google+ Hangouts. Anders als diese—und damit sind sie ein echtes hypertextuelles Format—lassen sie aber eine nichthierarchische textuelle Verzweigung zu. Klaus Eck stellt in unserer Branch fest:

Irgendwie erinnert mich das „wegbranchen“ ganz stark an etwas namens Hypertext und Verlinkung. Wenn sich die Diskussionen erst wieder verzweigen, wird die Komplexität der Verbindungen es uns nicht einfacher machen, diese nachzuvollziehen. Aber eine ganze Serie von Branchs und deren Bezüge zueinander fände ich spannend.

Jeder Take hat einen eigenen URI, kann also innerhalb wie außerhalb von Branch referenziert werden.
Dialogische Schreib- und Publikationsformen gab es schon vor dem Web. Briefwechsel gehören in diesen Bereich, vielleicht auch Rengas oder das kollaborative Schreiben der Frühromantiker und der Surrealisten. Mit analogen Techniken ist dialogisches Schreiben nur schwer zu verwirklichen, es ist meist hochartifiziell. Ein Dienst wie Branch macht das dialogische Schreiben simpel—auch wenn er kaum zu einem Massenphänomen werden düfte. Vor allem aber erleichtert er es, Dialoge zu verknüpfen—das ist außerhalb des Webs in dieser Form nicht möglich.
Noch drei Bemerkungen zum Abschluss:

  1. Die Verwandtschaft von Branch mit Online-Foren ist mir erst durch einige Beiträge in unserer ersten Branch bewusst geworden. Ich kenne mich mit Foren leider kaum aus; mir scheint, dass sich Branch von ihnen (außer durch das Interface) einerseits dadurch unterscheidet, dass explizit zur Teilnahme eingeladen wird, und andererseits dadurch, dass die verschiedenen Branches ein Netzwerk bilden können, während Foren hierarchisch organisiert sind.
  2. Branch schließt in mehreren Eigenschaften an Twitter an. Wichtig erscheint mir vor allem, dass alle Takes das gleiche Format und die gleiche Länge haben. Das ist eine der Eigenschaften von Twitter, die nur selten bemerkt wird, obwohl sie Twitter nicht nur von Blogs, sondern auch z.B. von Facebook unterscheidet.
  3. Im Augenblick ist der Zugang zu Branch noch schwierig—nach dem Vorbild von Quora will man so das Interesse steigern und für eine hohe Anfangsqualität sorgen. (Mein eigenes Invite habe ich nach einem Post in einer anderen Branch erhalten, das offenbar gelesen und bewertet wurde). Man darf diese vorläufige Beschränkung des Zugangs nicht damit verwechseln, dass zur Teilnahme an einer einzelnen Branch eine Einladung oder das Akzeptieren durch die Initiatorin der Branch nötig ist. Diese zweite Beschränkung stellt sicher, dass alle Beteiligten für den Zweig, an dem sie mitarbeiten, verantwortlich sind und ist damit ein wesentlicher Bestandteil des Dienstes.

Unten als Beispiel die mehrfach erwähnte Branch (ich hoffe, dass die Einbindung funktioniert). Auch Dörte Giebel hat diese Branch heute in ihr Blog eingebettet und zur Diskussion aufgerufen.

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