In Europa ist die Debatte um den amerikanischen Blogger Dave Weigel bisher kaum beachtet worden. In US-Journalismus-Blogs ist sie seit zwei Wochen ein wichtiges Thema. Gerade wegen der Unterschiede ist sie ein interessantes Gegenstück zum Konflikt zwischen der FAZ und Ex-FAZ-Blogger Michael Seemann . Viele Links habe ich in den Tweets von Jay Rosen gefunden. Rosen fasst die Entwicklung in Rebooting the News zusammen. Scott Rosenberg resümiert wichtige Reaktionen.

Journalisten und Redaktionen im Web sind nicht mehr Gatekeeper für Informationen. Die Weigel-Affaire zeigt zwei Konsequenzen dieses Kontrollverlusts:

  1. Es gehört nicht zur job description von Webjournalisten, ihre persönliche Meinung zu verstecken. Leser im Web wollen und brauchen nicht den View from Nowhere, sondern Klarheit darüber, vorher ein Journalist kommt,

  2. Journalisten agieren immer mehr selbst im social web, im vormedialen Raum. Sie müssen sich dort um ihre Reputation kümmern, und sie müssen sich gegen alle Versuchen wehren, sie durch Skandalisierung mundtot zu machen.

Gezielte Reputationsschädigung

Weigel hat für die Washington Post
über die amerikanischen Konservativen gebloggt. Wie er persönlich zu
den Leuten stand, über die er berichtete, war lange nicht klar—allerdings war seine libertäre Haltung bekannt. Im Juni hat dann jemand einige Mails Weigels an die
JournoList, eine geschlossene Google Group liberaler Journalisten, an
die Öffentlichkeit gespielt. Darin äußert Weigel sich abfällig und emotional über
einige bekannte Konservative. So empfiehlt er Matt Drudge sich selbst
anzuzünden. (Drudge hat seinerzeit in seinem üblen report die Affäre
Bill Clintons mit Monica Lewinsky publiziert.) Weigel wurde heftig
angegriffen, entschuldigte sich und verzichtete auf seinen Job. Die Post nahm seinen
Verzicht an, um den Verdacht zu entkräften, sie berichte ideologisch gefärbt über die Konservativen. Viele Kommentatoren in den USA sprechen davon, dass er
gefeuert wurde. Inzwischen steht er bei MSNBC unter Vertrag.

Mythos der Meinungslosigkeit

Die Geschichte zeigt
einmal mehr, dass sich die WaPo von der webaffinen Linie der
vergangenen Jahre entfernt. Und sie verweist auf einen tief gehenden
Konflikt über die Rolle von Journalisten. In den USA haben wohl schon Walter Lippman und John Dewey in den 20er Jahren Kernargumente dieser Debatte formuliert. Auf der einen Seite steht die Position, ein Journalist dürfe sich nicht durch eigene Meinungen beeinflussen lassen. Für die andere Seite hat spätestens im Web die strenge Trennung von Bericht und Meinung – wohl immer schon
eine Fiktion – ihren Sinn verloren. Jeff Jarvis hat den myth of the opinionless man in seinem Kommentar zu der Weigel-Affäre scharf angegriffen. Dan Gillmor hat schon vor Jahren vom End of Objectivity geschrieben.

Ersticken durch Skandalisierung

Weigel verlor seinen Job wegen Bemerkungen in
einem geschlossenen Kreis. Mit der Qualität seiner Arbeit haben
diese Bemerkungen nichts zu tun. Als Blogger der Washington Post wurde
Weigel durchaus auch von Konservativen geschätzt. Hier wurde
skandalisiert, um eine Person—Weigel—und eine Institution—die Post—zu treffen. Die Kritiker werfen der Post vor, dass sie gegenüber
dieser Skandalisierung eingeknickt sei. Wenn auf Skandalisierung mit Beschwichtigung statt mit Empörung reagiert wird, ist die Konsequenz klar: Jedem Journalisten (und auch jedem anderen) kann jede
öffentliche oder auch halb-private Äußerung jederzeit vorgeworfen
werden. Ein Phänomen, das nicht auf die USA beschränkt ist: Wer bloggt, twittert oder an anderen Konversationen im Social Web teilnimmt, muss damit rechnen, dass ihm aus dem Zusammenhang gerissene Äußerungen vorgehalten werden, um ihn fertigzumachen. Nicht sein Arbeitgeber hat Weigel gegen diese Kampagne verteidigt—wohl aber Kollegen und Blogger, die die Affäre aufgriffen und letztlich wohl in einen Gewinn für die Reputation Weigels ummünzten.

PS: Die Affäre ist viel komplexer, als es sich in einem kurzen Post beschreiben lässt; sie ist wohl eine Schlüsselgeschichte für die Situation des politischen Journalismus in den USA. Zwei Blogposts, auf die Jay Rosen hinweist, zeigen, dass sich hier nicht einfach Gute und Böse gegenüberstehen: Bloggasm » Dave Weigel and the rise of young libertarian journalists in DC; Pundits at the Gate: June 2010 Version | Mayhill Fowler. Die wichtigsten Fakten finden sich inzwischen in der Wikipedia.

Update, 6.8.10: Weigel arbeitet inzwischen für Slate. Heute schreibt er in der WP Five myths about the ‚tea party‘. Für Jay Rosen das offene Eingeständnis, dass es ein Fehler war, Weigel gehen zu lassen.

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