2012 hat Howard Rheingold einen Social Media Literacies Syllabus für College-Studenten als Google Doc veröffentlicht. Er beruht auf Rheingolds Buch Net Smart. Seit Mai gibt es auch eine Version für High Schools. Die Dokumente können frei kommentiert, kopiert und weiterverwendet werden.

Rheingolds Syllabus beschreibt die am besten durchdachte und vermutlich auch die am besten erprobte Einführung in soziale Medien, die ich kenne. Ich wünschte mir, dass ich Rheingold in den letzten Jahren nicht aus der Ferne beobachtet, sondern mehr seiner Ansätze tatsächlich praktisch ausprobiert hätte. Ich habe mir den Zugang zu Rheingold selbst erschwert, weil ich mich zu sehr für die Systematik hinter seinem Konzept interessiert habe, statt für die Praxis, die er vermittelt. Ich habe mir einige Punkte notiert, auch für eine gründliche Beschäftigung mit Rheingolds Buch:

Social Media Literacies vermitteln statt zu diskutieren, ob das Netz gut oder böse ist

Ob wir durch soziale Medien und das Web besser oder schlechter werden, ist ein Dauerthema im öffentlichen Diskurs. Nach dem Web 2.0-Hype vor 2010 haben bei uns gerade die Apokalyptiker Konjunktur. Sie beschreiben uns als demenzbedrohte Opfer einer gnadenlosen Transparenzgesellschaft. Für Rheingold muss die Frage, ob das Netz und die digitale Kultur gut oder schlecht sind, nicht theoretisch, sondern praktisch beantwortet werden. Ob sie die individuellen Fähigkeiten und die Kultur bereichern oder schmälern hängt von den Fähigkeiten ab, mit ihnen umzugehen, von den social media literacies:

… that social media literacies are a critical uncertainty in addressing the question of whether digital media improve or erode human individual capacities and collective culture. Literate populations are becoming the driving force that shape new media, just as they were the eras following the invention of the alphabet and printing press.

Soziale Medien und Bildung lassen sich für Rheingold nicht voneinander trennen. Soziale Medien existieren nicht unabhängig von der Kultur des Umgangs mit ihnen. Wenn man darüber diskutiert, was digitale Technologien für die Gesellschaft heute bedeuten, diskutiert man also immer auch Bildungsthemen.

Rheingold sieht die Risiken des permanenten Umgangs mit dem Netz und verharmlost sie nicht. Er schreibt sie aber nicht der Technik oder anonymen Agenten zu, sondern setzt sie in Beziehung zu Praktiken, die entwickelt, verändert und gelernt werden können.

Social Media Literacies als mentale, körperliche und soziale Praktiken vermitteln

Rheingolds Syllabus zielt nicht auf theoretisches Wissen über soziale Medien oder auf das Beherrschen von Werkzeugen ab, obwohl social media literacies nicht unabhängig von theoretischem Wissen und Übung mit Tools existieren. Wie jede andere Bildung beziehen sich social media literacies auf Praktiken und auf Gewohnheiten, die geübt werden müssen. Wie man seine Aufmerksamkeit steuert, ob und wann man beim Kommunizieren am Bildschirm den Atem anhält, bestimmt darüber mit, wie man mit sozialen Medien umgeht. Zu Rheingolds Lehrplan gehört eine Vielzahl von Übungen, soziale Medien sinnvoll und human als tools for the mind zu verwenden. Gerade dazu können wie hier im bürokratisch steifen Europa viel von Rheingold lernen. Er hat sich den Geist der Gegenkultur der 60er und 70er Jahre bewahrt, ohne den es wahrscheinlich nie zur PC-Revolution und ihren Folgen gekommen wäre.

Praktische Übung und Reflexion setzen sich auch bei Social Media-Praktiken gegenseitig voraus

Rheingolds Syllabus trennt nicht zwischen der Verwendung von sozialen Medien und ihrer Reflexion. Aufmerksamer (mindful) Umgang mit sozialen Medien ist nur möglich, wenn man versucht, ihre Besonderheiten und ihre Folgen für unser Leben so gut wie möglich zu verstehen. Rheingolds Syllabus enthält sorgfältig zusammengestellte Listen mit Texten und Videos zu sozialen Medien. Sie sind ein Beispiel für die Fähigkeit des Kuratierens, die in Rheingolds Curriculum einen wichtigen Platz hat. Eine große Rolle spielen in ihr die sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Aspekte von Netzwerken, denn letztlich sind soziale Medien Mittel zum Austausch und zum Handeln in Netzwerken.

Spannungsbogen zwischen persönlichen Gewohnheiten und aktueller kultureller Praxis

Rheingolds Modell der social media literacies habe ich lange nicht verstanden. Ich merke jetzt das sein Konzept eine innere Logik hat, die vom Individuellen und Allgemeinen zur konkreten Praxis führt, wobei die Teile des Curriculums aufeinander aufbauen. Der Bogen führt von den persönlichen Fähigkeiten, seine Aufmerksamkeit zu steuern (attention) und Unsinn zu erkennen (crap detection), über die Fähigkeit zur Teilnahme an virtuellen oder auch virtuellen Communities (participation) und zur aktiven Zusammenarbeit in ihnen (collaboration) bis zur Befähigung zur kollektiven Praxis in vernetzten Öffentlichkeiten (network awarness). Zur Darstellung dieser Fähigkeiten in seinem Buch Net Smart, das dem Syllabus zugrundeliegt, sagt Rheingold:

I didn’t write the book as a syllabus, but as a logical ordering of the five social media literacies of attention, crap detection, participation, collaboration, and network awareness: attention is the starting place for all media use; crap detection is necessary for effective participation; knowledge of individual participation is by its nature enmeshed with collaborative communications that take place through networked publics.

Rheingold formuliert mit den social media literacies ein zeitgenössisches Bildungsideal. Es setzt auf bewusste Wahrnehmung und Reflexion, um die Möglichkeiten vernetzter Öffentlichkeiten zu erschließen.

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