Prozessjournalismus ist wie Linkjournalismus ein Schlüsselbegriff, um zu erkennen, was Online-Journalismus vom Journalismus für den Druck oder Rundfunk und Fernsehen unterscheidet.

Journalistische Medien außerhalb des Web sind an feste Veröffentlichungszeitpunkte gebunden, zu denen eine Geschichte fertig sein muss. Selbst wenn ein Nachrichtensender 24 Stunden journalistisch berichtet, kann er zu einem bestimmten Zeitpunkt nur eine Geschichte bringen und muss so gut wie möglich zusammenfassen, um was es geht. Der Platz in der Zeitung oder die Sendeminute ist teuer; nur die wichtigsten und hoffentlich auch am besten überprüften Informationen können veröffentlich werden. Die Journalisten müssen also recherchieren, die Informationen aufbereiten und redigieren, bevor sie publizieren.

Im Web kostet das Publizieren fast nichts, die Geschichten werden auch von den Lesern zusammengestellt und — z.B. durch Kommentare — ergänzt, es können beliebig viele Informationen gleichzeitig gebracht werden. Die Informationen lassen sich nichtlinear miteinander verknüpfen; sie sind nie wirklich abgeschlossen. Nicht wieviel Platz oder vieviel Zeit zur Verfügung steht, bestimmt, was veröffentlicht werden kann, sondern die Aufmerksamkeit der Benutzer. (Vielleicht kann man sagen: Der Schlüsselfaktor ist nicht die Zeit, die das Medium, sondern die Zeit, die die Benutzer haben.)

Jeff Jarvis fasst in einer Grafik zusammen, wie Journalismus als Prozess aussieht:

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Die Grafik stammt aus Jarvis‘ Post Product v. process journalism: The myth of perfection v. beta culture. Darin stellt Jarvis nicht nur dar, was Prozessjournalismus ist, sondern er beschäftigt sich auch mit seinen Implikationen, bis hin zu Walter Lippmans Unterscheidung von Nachrichten und Wahrheit:

If we assume that news and truth are two words for the same thing we shall, I believe, arrive nowhere.

Zwei neue deutschsprachige Blogposts erläutern den Begriff Prozessjournalismus: Produktjournalismus vs. Prozessjournalismus von Thomas Knüwer und Was ist Process Journalism? von Marcus Bösch.

Hintergrund dieser Posts ist eine Debatte über die journalistischen Methoden von Tech Bloggern, die die New York Times mit einem — journalistisch fragwürdig recherchierten — Artikel ausgelöst hat. Darin wird unter anderem Michael Arrington vorgeworfen, aus purer Sensationsgier Gerüchte zu publizieren, etwas über den angeblichen Verkauf von Twitter an Apple. Arrington hat sich energisch gegen diese Vorwürfe gewehrt und spricht von der Morality And Effectiveness Of Process Journalism. Das National Public Radio hat Arrington zu der Debatte interviewt:

(Transkript des Interviews hier)

Ich möchte mich in weiteren Posts damit beschäftigen, was Prozessjournalismus ist und welche journalistischen Formate zu ihm passen. Im Prozessjournalismus wird der gesamte Rechercheprozess transparent; die Leser können genau verfolgen, wie eine Aussage zustandekommt. Damit folgt der Prozessjournalismus dem journalistischen Objektivitätsideal weit mehr, als es seine Verleumder tun. Es ist zwar möglich, Informationen zu publizieren, die nicht mit einer anderen Quelle verifiziert werden konnten, aber es wird immer deutlich, worauf sie beruhen. Damit werden die chains of reference, von denen Bruno Latour in der Hoffnung der Pandora spricht, nachvollziehbar: Prozessjournalismus ist wissenschaftlichen Methoden näher als der klassische Journalismus, dessen Verifikationskonzept eher an juristische Verfahren erinnert.

Ein Kommentar zu “Journalismus als Prozess

  1. Die Verknüpfung mit Latour finde ich interessant, bin gespannt, was Ihr damit noch macht (ich denke auch, dass Latour und Co. einige hilfreiche Ansätze für die Kommunikationswissenschaft liefern). Hilfreich für die Prozess-Betrachtung von Journalismus ist auch Margreth Lünenborgs Ansatz, Gedanken aus der Cultural-Studies-Perspektive miteinzubeziehen, und Journalismus als „kulturellen Prozess“ zu verstehen. Prozess meint dort allerdings nicht wie hier den Mikro-Prozess rund um eine Nachricht/Story, sondern den allgemeineren gesellschaftlichen Aushandlungsprozess um Bedeutung, Relevanz und Aufmerksamkeit. Dennoch haben die Ansätze nicht nur den Prozess-Begriff gemeinsam, sondern auch ein verwandtes Verständnis von Journalismus.

    „…lässt sich damit Journalismus … beschreiben als ideologisch und textuell gebundene Ausdrucksweise gesellschaftlicher Strukturen, deren zentrale Funktion im fortlaufenden Prozess der Selbstverständigung innerhalb der Gesellschaft besteht.“ (91)
    „„…versteht unter Journalismus den kulturellen Diskurs zur Selbstverständigung einer Gesellschaft. Journalismus ist in der Mediengesellschaft das populärste und umfassendste Zeichensystem zur diskursiven Verhandlung von Relevanz und Bedeutung.“ (101)

    Lünenborg, Margreth. (2005). Journalismus als kultureller Prozess. Wiesbaden: VS Verlag.

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