Ich brauche für mein Blog einen Neuanfang. In den letzen Monaten habe ich kaum noch darin geschrieben. Zugleich habe ich mir immer mehr vorgestellt, über die Grazer Szene, vor allem die Kulturszene zu schreiben. Wie sich das mit den Themen verträgt, mit denen ich mich sonst beschäftige, kann ich nicht sagen. Zum Glück habe ich mich immer wieder dagegen entschieden, dieses Blog einem fixen Thema zuzuordnen.

Aber wie und vor allem warum blogge ich über Kultur? Ich kann diese Fragen nicht beantworten. Ich kann mich beim Bloggen auf die Themen konzentrieren, die mich selbst interessieren, ich muss mich nicht nach einem angenommenen gemeinsamen Nenner meines Publikums richten. Aber diese Themen sind schwer einzuführen. Es sind ganz andere als die, zu denen ich sonst blogge, aber sie müssen doch im Zusammenhang mit diesen Themen funktionieren.

Gestern abend habe ich die letzte Grazer Vorstellung von Elfriede Jelineks Kein Licht besucht (Text hier). Ich bin durch einen Bericht im Ö1-Morgenjournal auf die Inszenierung von Ernst Marianne Binder mit dramagraz aufmerksam geworden. Binder interessiert mich, seit ich seine Magic Afternoon-Inszenierung vor ein paar Jahren gesehen habe. Ein Grund dafür ist, dass ich ihn mit Graz, mit dem Besonderen dieser Stadt verbinde. Vielleicht habe ich damit schon eines der Themen gefunden, die eine Inszenierung wie die von gestern mit meinem Blog verbinden. Warum bin ich hier? Warum wollte ich hierhin? Warum will ich hier bleiben? Vor dreissig Jahren, als ich nicht einmal wusste, wo Graz liegt, habe ich die manuskripte abonniert. Durch sie und durch Jörg Drews wurde Graz, in das ich Jahrzehnte später gekommen bin, für mich zu einer imaginären Literaturstadt. Und noch davor, in den 60er Jahren, hat mir meine Mutter etwas von Magic Afternoon erzählt, das sie in einem Literaturkreis gelesen hat. Wirklich beschäftigt habe ich mich mit Grazer Literatur bis heute nicht. Vielleicht beginne ich jetzt endlich mit dem, was ich vor dreissig Jahren wollte, als sich bei mir die kaum gelesenen Hefte der Manuskripte stapelten.

Binders Inszenierung funktioniert sicher in vielen Aufführungsräumen, aber in den Dom im Berg passt sie, als wäre sie aus ihm heraus entwickelt worden. Der Dom im Berg ist ein riesiges Bunkergewölbe mitten im Grazer Schlossberg. Ich kenne ihn von vielen Pop-, Subkultur- und Diskussionsveranstaltungen, vor allem vom Elevate Festival. Für Kein Licht wurde mit Vorhängen ein Theaterraum abgeteilt. Die Zuschauer—die Vorstellung gestern war fast ausverkauft—saßen auf ansteigenden Bänken vor dem Bühnenraum, in dem die eigentliche Szene von einem leicht spiegelnden, quadratischem Boden gebildet wurde. Während des Hauptteils des Stücks war ein großes goldenes Fahrrad auf einem Marmorsockel das einzige Requisit. Während des Epilogs sammelte Libgart Schwarz Steine von dem schwarzen Boden, die sie dann aufhäufte, um ein Teelicht zwischen ihnen anzuzünden.

In dem Ö1-Bericht und in anderen Medienberichten wird Kein Licht als Stück über Fukushima bezeichnet. Hätte ich das nicht vorher gehört, hätte ich Fukushima nur als eines der Themen des Stücks oder als eine Bedeutungsschicht erkannt. Der Bezug zu Fukushima und dahinter zu Hiroshima lässt sich von den Bildern des Stücks aus immer wieder herstellen und darf nicht unterschlagen werden. Kein Licht ist aber ein nach eigenen Regeln ablaufendes—oder solche Regeln suchendes und probierendes—Sprach-, Sprech- und Stimmspiel, in dem wie in barocken Allegorien jedes Wort und jedes Element mit einer Fülle von Bedeutungen aufgeladen ist oder aufgeladen werden kann, ohne dass Eindeutigkeit hergestellt wird. Alles hat Bedeutung und ist gleichzeitig unendlich weit von der Bedeutung entfernt, so wie es Benjamin über das barocke Trauerspiel geschrieben hat.

Großartig an der Inszenierung Binders (und am Text) ist, wie sich die Sprech- und Stimmhandlungen auseinander entwickeln und entfalten, immer wieder auf harte Brüche hin und von diesen Brüchen ausgehend, einerseits wie barocke Musik streng gebunden, dann wieder assoziativ bis zum Kalauer. Ohne eine Handlung, ohne eine fixierte Bedeutung, mit einer meist nur angedeuteten Zuordnung der Spielenden zu Rollen entfaltet sich ein Drama, das dem Zuschauer (wie den Sprechenden) fremd bleibt und ihn zugleich fesselt und verführt.

Im Hauptteil der Sprechoper spielen fünf junge Frauen und ein Mann. Die Stimmen der Frauen stehen für eine Musik, die nicht mehr möglich ist. Niemand, das wiederholen sie immer wieder, hört sie. Würde man sie hören, wären sie Instrumente in einem Musikstück. Barfuss, mit sandfarbenen Kleidern, die ihren Körpern Freiheit lassen, faszinieren sie die Zuschauer und sich selbst. Aber alles was sie, sagen, negiert sich selbst, erklärt ihre eigene Wirklichkeit für unmöglich, für trügerisch. Dem Spiel ist ein Ereignis vorausgegangen, das seine Grundlagen für immer zerstört hat. Die Interaktionen der Frauen bilden dabei einen einzigen großen Spannungsbogen, währenddessen sie sich und den Zuschauern immer näher kommen. Lange sprechen sie in einem Chor. Das Trailer-Video von Drama Graz gibt einen Eindruck:

Der Mann, der blinde Seher Teiresias, kommentiert die Aktionen derFrauen nur sparsam. Er steigt nach einiger Zeit auf das Fahrrad und fährt, eine reine Kunstfigur, unaufhörlich weiter wie auf einem Heimtrainer.

Eingerahmt wird dieser Hauptteil von einem Prolog und einem Epilog. Im Prolog hört man die Stimme Elfriede Jelineks, während die Spielenden fast im Dunkeln am Boden verharren. So körperlich die Sprache während des Hauptteils ist, so unkörperlich und distanziert ist sie während des langen, reflektierenden Prologs. Der Prolog öffnet und verfremdet den Text, macht ihn als Werk einer Autorin erkennbar, als Ergebnis von Reflexion, nimmt ihm die Absolutheit. Im Epilog geschieht das Gegenteil. Der Text ist einer Rolle und einer identifizierbaren Situation zugeordnet. Eine alte Frau versorgt die Hunde, die nach der Katastrophe zurückgeblieben sind. Sie hat wahnsinnige Züge und zugleich komödiantische, sie wird von einer großen Schauspielerin gegeben, während der Prolog von einer unsichtbaren Autorin aus dem Off gesprochen wurde. Körper, Stimme und Situation stehen in jedem der drei Teile in ganz anderen Beziehungen zueinander.

Ich hoffe, dass ich meine Eindrücke von der Inszenierung nicht zu raunend beschrieben habe. Der Text und die Inszenierung sind viel zu dicht, um sie beim ersten Sehen und hören zu erfassen. Ich bin nicht auf die Metaphorik des Lichts eingegangen und auf das Verhältnis von Licht und Stimme, und auch nicht auf die vielen literarischen Bezüge, von Heidegger über Rilke bis zu Sophokles. Ich habe Jelineks Sprachoper gestern tatsächlich fast wie ein Musikstück wahrgenommen, als abstraktes und zugleich körperliches Spiel.

Sorry, wenn ich auch mit einem Epilog aufhöre, in diesem Fall mit einem reflektierenden. Der Theaterabend gestern und der ganze Kontext, in den er gehört, die klassische Kulturwelt mit ihren Restriktionen und Riten, sind weit von der Web- und Social Media-Realität entfernt, mit der ich meist zu tun habe. Aber um Interaktion mit Sprache, Stimme und Körpern, um Inszenierung und Theater, geht es hier wie dort. Und wenn wir über einen Begriff wie Transparenz nachdenken, ist ein Text wie Kein Licht der Netzrealität auf einmal sehr nah.

2 Kommentare zu “"Kein Licht"—zur Grazer Inszenierung

  1. Ich frag mich ja, ob man da im Publikum was Neues erzeugen kann, wenn der Text Eindeutigkeit so stark vermeidet, oder ob die Zuschauerin nur freut was sie noch alles weiß. Die Form ist zwar fortschrittlich, aber nach 3 Stücken in der Form, auch schon Erinnerung.

  2. Ich finde die Form gar nicht so fortschrittlich. Am ehesten vielleicht die Gebrochenheit. Aber die Inszenierung ist einfach in sich sehr gut, und zwar auf allen Ebenen. Die Bildungsassoziationen wären für mich das am leichtesten Weglassbare – aber andererseits zeigen gerade sie, dass das Stück etwas Gemachtes ist, kein sakraler Ablauf.

    Zum Neuen beim Publikum: Worin kann es wirklich bestehen? Und lässt es sich vorwegnehmen oder vorwegplanen?

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