Hier in Graz ist gerade steirischer Herbst. In der ersten Woche habe ich leider nur Zeit für einen Kurzbesuch im Truth-is-concrete Camp gehabt. Gestern konnte ich im Kunsthaus das Gespräch zwischen Michelangelo Pistoletto and Hans-Ulrich Obrist über soziale Plastik verfolgen. Ich kannte Pistoletto vorher nur dem Namen nach. In der einen Stunde im Kunsthaus habe ich ihn in mehreren Rollen kennengelernt: Als fast renaissancehaften Künstlerphilosophen, als Avantgardisten, als Utopisten, Organisator und Lehrer und als einen Vorläufer der Hacker- und Maker-Bewegung.
Pistoletto ist ein 80jähriger signore, schwarz gekleidet, mit einem gepflegten weißen Bart.Michelangelo Pistoletto and Hans-Ulrich Obrist am 10.9.2010 im Kunsthaus Graz Obrist hat ihn zurückhaltend befragt und sich selbst als Kurator fast unsichtbar gemacht (das entspricht, wie ich gestern gelesen habe, seinem Selbstverständnis als Kurator). Pistoletto hat ausführlich geantwortet, wobei die Antworten alle um ähnliche Themen kreisten. Pistoletto hat erwähnt, dass er gerade an seinem ultimo manifesto schreibt, und als Zuhörer konnte man gestern wohl auch diesen Schreib- und Formulierungsprozess verfolgen. Pistoletto spricht sehr präzise und sein ganzer Ansatz richtet sich gegen die Verehrung von Autoritäten. Pathos hat sein Auftritt dadurch gewonnen, dass er immer wieder auf sein Alter und den Tod anspielte: Tomorrow I will be dead, sagte er einmal ausdrücklich.
Gleich zu Beginn sprach Pistoletto über die Zeit als sein zentrales Motiv. Es ist bei ihm verbunden mit dem Motiv des Spiegels, der Fixierung, des sich selbst Begegnens und sich Entfernens. Die Zeit ist dabei Dauer und zugleich Trennung oder Teilung (dividere und condividere sind Schlüsselwörter für Pistoletto). Alles, was in der Zeit ist, teilt sich, und die Teilung ist die Voraussetzung für Vielfalt. In dieser Vielfalt ist nichts dauerhaft herausgehoben: Es gibt im Universum nirgendwo ein Zentrum, sagte Pistoletto über Bilder vom Weltraum, die er verwendet hat.
Kultur und Gesellschaft sind das ständige Formen der Vielfalt, die sich durch Teilung und Tod laufend verändert. Die Vielfalt, das Leben, lässt sich nicht beherrschen, man kann nur ästhetisch oder erotisch mit ihr umgehen: fare amore alla vita. In der Vielfalt, in der Teilung, begegnet man dem Anderen. Die Beziehungen sind immer horizontal, nie vertikal; es gibt nichts außerhalb des Vielfältigen. In dem Manifest, das er vorbereitet, spricht sich Pistoletto für den Omnitheismus aus. Der Omnitheismus ist ein—auch ironisch gemeinter—Mythos.
Die Rolle des Künstlers in einer solchen Welt kann nicht darin bestehen, etwas Überzeitliches zu schaffen. Eine Vertikale in diese Welt horizontaler Verbindungen einzuführen, wäre unmöglich, und es wäre nicht einmal zu wünschen. Als Künstler arbeitet Pistoletto an Bildern und Mythen, die aber nie endgültig, eindeutig sein wollen. Zugleich teilt er mit anderen, beteiligt sich an der Transformation der Gesellschaft, stellt sein Atelier (auch eine Institution, wie Pistoletto gestern sagte) allen zur Verfügung. Pistoletto sprach gestern von einer Universität, die nicht von Begriffen, notions ausginge, sondern von der creativity. Einer der Mythen, mit denen Pistoletto arbeitet, ist der des terzo paradiso, des dritten Paradieses, das das erste Paradies—das Paradies der Natur—und das zweite Paradies—das der Artefakte, der Kunst und der Technik—miteinander versöhnt.
Pistolettos großes Projekt zur Transformation der Gesellschaft ist die Cittadellarte, ein Netzwerk, zu dem die Ausstellung im Kunsthaus gehört, die am Wochenende eröffnet wurde. An der Cittadellarte im Kunsthaus haben verschiedene Künstlergruppen und Pistoletto selbst mitgearbeitet; das Publikum kann weiterentwickeln und verändern und damit zugleich auch die Stadt Graz verändern.
Die Projekte Pistolettos sind für mich ein Gegenstück zu der Hacker- und Makerbewegung, die in Verbindung mit dem Web entstanden ist. Mir ist gestern während der Diskussion Pounds Make It New eingefallen, eine Devise der Avantgarde im 20. Jahrhundert, die aber auch über allen Hackspaces und Barcamps stehen könnte. Mich interessieren die Verbindungen zwischen der Avantgardekunst und der Maker-Kultur, die auf lokale Veränderung statt den Konsum vorgefertigter Güter aus ist. Wie und ob diese beiden Communities miteinander zusammenhängen, ist mir unklar (oder: wie man diese Verbindungen herstellen kann). Nach der Diskussion gestern habe ich kurz mit Magdalena Reiter, einer Künstlerin aus Linz gesprochen, die an der Cittadellarte im Kunsthaus mitgearbeitet hat, und die auch eine Verbindung zwischen diesem Projekt und den Hackspaces sieht. Auch das Paraflows-Festival in Wien verknüpft beide Welten.
Durch Zufall bin ich gestern Abend in einem Interview mit Dirk von Gehlen auf eine Möglichkeit gestoßen, solche Verbindungen konkreter zu formulieren. In seinem neuen Buchprojekt geht es darum, dass in der digitalen Welt das Konzept des Originals seinen Sinn verliert. Von jedem Song, von jedem Werk gibt es nur verschiedene Versionen. Man kann diese Idee rein technisch verstehen, aber sie findet sich ganz ähnlich in der Kunst des 20. Jahrhunderts und ihrer Kritik am Begriff des geschlossenen Werks. Sie passt sehr gut zu einer Kunst wie der Pistolettos, die die Vertikale ablehnt und als Kunst als kollektiven Prozess versteht.

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