Eine Überlegung, die ich hier nur veröffentliche, weil man in einem Blog nicht klüger wirken muss, als man ist. Mir ist neulich der Gedanke durch den Kopf gegangen: Was ist, wenn das Netz nicht Ausdruck oder Ergebnis irgendwelcher gesellschaftlicher Tendenzen, Entwicklungen oder Logiken ist, sondern an die Stelle der Gesellschaft tritt?

Wir hatten ein bis zwei Jahrhunderte lang die Gesellschaft, in Zukunft haben wir das Netz. Die Gesellschaft ist nicht etwas, das es gibt, das immer da ist, sondern sie ist produziert. Sie existiert nur zusammen mit bestimmten Praktiken der sozialen Organisation, zu denen auch die Soziologie gehört. Wir entwickeln gerade ganz andere Praktiken, in denen man das, was mit Gesellschaft gemeint war, vielleicht gar nicht mehr sinnvoll bezeichnen kann—weil zu diesen Praktiken z.B. Daten und zu ihren Akteuren z.B. die Infrastrukturen für die Analyse von Daten gehören, die man, wenn man ausgehend von der Gesellschaft denkt, der Technik zuordnet.

Dieser Gedanke ist z.T. ein Ergebnis der Bruno Latour-Lektüre. Mir ist klar, dass man ihn so nicht formulieren kann. Das Netz kann die Gesellschaft nicht ablösen, weil es sie nicht gab. Es gibt nicht die Super-Super-Struktur, weder als Gesellschaft noch als Netz, und wohl auch nicht als Netzwerkgesellschaft. Es gibt höchstens Praktiken, in denen die Gesellschaft als ein Objekt z.B. für soziologische Untersuchungen oder auch politische Strategien konstruiert wird. Die Praktiken einer Netzwissenschaft oder Web Science werden sich davon unterscheiden und ihre Objekte anders konstruieren—z.B. so, dass Soziales und Technisches erst gar nicht getrennt werden. Zu ihnen könnte auch gehören (auch auf diese Idee komme ich durch Latour), die Daten, die in sozialen Netzwerken wie Facebook produziert werden, als eine Konstruktion von Kollektiven anzusehen, die sich von einer „statistischen“ Konstruktion des Verhältnisses von Gesellschaft und Individuum unterscheidet.

Ich möchte hier weiterdenken. Ich glaube, dass mit dabei eine genauere Latour-Lektüre helfen kann. Ich freue mich über Kommentare, auch wenn sie diese Überlegung grundsätzlich kritisieren. z.B. weil sie schon wegen ihrer Allgemeinheit problematisch ist.

6 Kommentare zu “Netz statt Gesellschaft?

  1. Vermutlich ist das einschneidende Moment, dass die Bezugsgröße Staat für „die Gesellschaft“ an Relevanz verliert, weil Begegnungsstätten, an denen sich Gruppenidentitäten herausbilden, im Netzwerk nicht mehr an physische Nähe gebunden sind. Globalisierung im Hyperdrive.
    Die Technik, die ja nur eine weitere Ebene der mediengestützten Kommunikation für diesen Prozess bildet, hat sicherlich eigene Wirkung, aber ob sie zum bestimmenden Element wird, wage ich zu bezweifeln. Agentivität bleibt trotzdem dem Menschen vorbehalten, diesen Faktor halte ich in jedem Paradigma für nicht wegzudenken. Selbst systemtheoretische Ansätze müssen den Impulsen unberechenbarer Akteure Rechnung tragen. Gesellschaft ist ein passables Konstrukt, die Interaktion verschiedener Interessen und Agenten abzubilden.
    Das passende Konstrukt bleibt Gesellschaft auch, wenn das Netz da neue Ebenen der Interaktivität hinzufügt, selbst falls das Netz tatsächlich einmal eine eigene Agentivität entwickeln sollte. Die wäre zwar mangels Intentionalität nicht „echt“ – aber wenn Algorithmen vom Menschen als Agenten wahrgenommen werden, reicht das ja aus, um systemrelevant zu sein. So eine Entwicklung wird das Konstrukt von Gesellschaft erweitern, aber nicht ablösen – denn das Netz ist dann Teil der Gesellschaft, nicht Ersatz. Die Menschen hören ja deswegen nicht auf, intentional zu interagieren.

  2. Entscheidend scheint mir zu sein, dass die Wechselwirkungsweise der einzelnen ‚Gesellschafts’mitglieder sich durch die Einführung der schnellen Many to Many-Distanzmedien grundsätzlich ändert. Man kann das gut mit einem Schwamm und einer Qualle vergleichen. Der Schwamm hat noch kein Nervensystem und kann sich nicht als Ganzes fortbewegen. Die Qualle mit einem Nervensystem kann das. Wir werden unsere Identität grundlegend verändern, da sie durch Kurzinterventerionen von außen und nach außen zu einer Veränderung der Intentionalität und des Agenten führen werden.
    Das Wort ‚Konstrukt‘ gefällt mir in diesem Zusammenhang nicht, da es einen intentionalen Konstrukteur suggeriert.

  3. Danke für die Antwort! Ich versuche, die Unterschiede zwischen unseren Positionen zu formulieren. Dabei kommt es mir darauf an, Denkalternativen herauszubekommen.
    Für mich ist die "Bezugsgröße Staat" als solche nicht problematisch, auch wenn sich die Bedeutung des Staats durch nichtterritoriale Phänomene wie das Netz verschiebt. Aber auch z.B. die mittelalterliche Kirche, vielleicht auch die indischen Kasten, sind nichtterritoriale Organisationen.
    Ich sehe die Technik – das ist wohl der Unterschied – nicht als weitere Ebene der mediengestützten Kommunkation. Ich versuche, "Technisches" – also z.B. die Cloudinfrastruktur, Daten, das Web – als Bestandteil der sozialen Organisation zu verstehen. Die "Gesellschaft" hat dann auch nichtmenschliche Elemente. (Das ist z.T. ein Versuch, Latour zu verstehen; ich vertrete hier also nicht "meine" Gedanken.) Ich bezweifle deshalb, dass "Agentivität  … dem Menschen vorbehalten" bleibt. Ich denke eher, dass Agentivität im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie eine Eigenschaft heterogener Netzwerke ist, also von Komplexen, zu denen auch nichtmenschliche Komponenten gehören, z.B. Eigenschaften von Territorien. Ohne Assoziation mit Nichtmenschlichem ist für mich Agentivität nicht vorstellbar – was nicht heisst, dass sie streng determiniert ist. "Gesellschaft" möchte ich als Konstrukt der Akteure selbst verstehen, also nicht nur als eine wissenschaftliche oder analytische Kategorie. "Gesellschaft" kommt z.B. durch Meinungsforschung, durch für die Gesellschaft agierende Organisationen usw. zustande. In meinem Blogpost wollte ich die Frage formulieren, ob dieses Konstrukt nicht abgelöst wird. "Gesellschaft" im Sinne  sozusagen überorganisatorischen Einheit erklärt wenig – es sein denn, man nimmt für sie spezifische Regeln oder Gesetze an. Mich interessieren stattdessen eher die menschlichen und nichtmenschlichen Akteure; ich glaube nicht, dass man jenseits von ihnen ein Gesamtkonstrukt braucht.

  4. Zum letzten Satz: Mir geht es eher um dir organisierende Funktion solcher „Konstrukte“. Sie sind eine Voraussetzung der Intentionen. Ich weiss nicht, ob es richtig wäre, diese „Konstrukte“ als Akteure oder Akteur-Netzwerke zu verstehen.

  5. „Wir entwickeln gerade ganz andere Praktiken, in denen man das, was mit Gesellschaft gemeint war, vielleicht gar nicht mehr sinnvoll bezeichnen kann…“
    Das bemerkenswerte dieser Aussage ist ja nicht eigentlich, ob sie stimmt oder nicht – sofern man solche Fragen überhaupt noch ernst nehmen kann. Interessant ist, dass in diesem Kontext die Frage nach einem Verständnis für Gesellschaft überhaupt gestellt werden kann, insbesondere, wenn man darauf achtet, in welchem Zusammenhang sie erstens gewöhnlicherweise auftaucht und zweitens in welchem Zusammenhang sie dann relativiert werden kann. Dass Gesellschaft ein menschliches Phänomen ist, müsste entsprechend in Frage gestellt werden und es zeigt sich, dass ein überkommenes Verständnis für Gesellschaft anfängt, seine Anschlussfähigkeit zu verlieren, indem eine Unterscheidung von „Sozialem“ und „Technischem“ relevant wird, was ja darin begründet, dass Technik nicht einfach nur ein Mittel ist, das zweckmäßig verwendet wird, wie Trivialkenntnisse über das Phänomen des Sozialen begreifbar machen wollen.
    Jedenfalls scheint wenigstens ein Anfangspunkt für die Frage gefunden zu sein, wie Gesellschaft von Menschen gemacht, hergestellt, sichergestellt werden könnte, obgleich Menschen – anders als Gesellschaft – keinen Bestand haben. (Ars longa, vita brevis) Wäre damit zugleich nicht auch ein Beobachtungsstandpunkt gewonnen, der uns eine Theorie der Tradition, die hartnäckig etwas Gegenteiliges glauben machen will, erklären kann?
    http://differentia.wordpress.com/2010/12/23/vergesslichkeit-und-prognose-interessante-uberlegungen-bei-lostandfound/

  6. Ich finde die Akteur-Netzwerk-Theorie als Gedankenexperiment faszinierend, aber ich halte sie aus zweierlei Gründen dem Modell einer konstruierten Gesellschaft für unterlegen (soweit ich sie nach kurzer Lektüre richtig verstanden habe, ich kannte sie bislang gar nicht).
    Latour geht gerade nicht davon aus, dass Gesellschaft konstruiert ist, sondern er richtet den Fokus auf die Interaktion zwischen Dingen, Kultur und Menschen, die alle gleichermaßen in einem Netzwerk daran mitwirken, Aktionen durchzuführen. Ein Werkzeug ist genauso Teil einer Handlung, wie der Nutzer des Werkzeuges. Bedeutung schreiben die an einer Handlung beteiligten Aktanten sich erst in der Verknüpfung zur Handlung zu.
    1. Semantisch scheint mir das Ungleichgewicht zwischen Agens (sprachwissenschaftlicher Begriff) und patient/undergoer/experiencer/etc zu relevant, als dass ich eine ungewichtete wechselseitige Beeinflussung als adäquates Modell der Realität gelten ließe. Intentionalität und semantische Aspekte wie goal sind ausschließlich auf Seiten des Agens beheimatet. Konstruktivistische Ansätze geben diesen Aspekt der Intentionalität in der Beziehung nicht gleich im Ansatz auf. Die Interaktion von verschiedenen Aktanten ist allerdings ein Aspekt, der anderen Modellen weiteres Erklärungspotential eröffnen könnte.
    2. Wenn ich das theoretische Konstrukt des Netzwerkes von Dingen und Menschen auf die Entwicklung des Internetzes anwende, müsste ich konsequenterweise die Zombies im chinese room, künstliche Intelligenz als gleichberechtigten Akteur erwarten. Das tue ich nicht. Ich schreibe zwar in einem konstruierten Modell von Gesellschaft gerne den Dingen eine eigene Handlungsmacht zu, aber nur insofern als sie von Akteuren mit Bewusstsein als Agenten wahrgenommen werden. Menschen schreiben den Dingen in diesen Fällen aber Intentionalität zu – zum Beispiel, wenn wir uns über unseren Rechner aufregen, der uns wieder mal ärgert. Wir könnten sogar von Algorithmen, die mit uns kommunizieren fälschlicherweise wirklich Intentionalität annehmen. Der klassische Touringtest ist jedoch noch kein Garant dafür, dass die Software tatsächlich Bewusstsein erlangt hat. Die verknüpften Daten im Netz, so sehr sie unser Verhalten beeinflussen mögen, bleiben trotzdem im Konstrukt der Gesellschaft den Interpretationen und der Intention ihrer Schöpfer unterworfen.
    (PS der Knackpunkt für Akteure ist Bewusstsein und als Gegenpol zu den kühnen Thesen, die Kybernetiker bisweilen vertreten, lege ich meine Hand dafür ins Feuer, dass wir in unserer Lebenszeit kein künstliches Bewusstsein mehr bestaunen dürfen. Unser Verständnis von menschlichem Bewusstsein ist so unvollständig, dass ich aus dem ersichtlichen Ausmaß des Unwissens zuversichtlich die Unmöglichkeit einer Emulation ableiten kann. Gesellschaft wiederum ist ein notwendiger Rahmen, in dem die Regeln der Interaktion von intentionalen und nichtintentionalen Aktanten abgebildet werden können.)

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