Ich finde die Akteur-Netzwerk-Theorie als Gedankenexperiment faszinierend, aber ich halte sie aus zweierlei Gründen dem Modell einer konstruierten Gesellschaft für unterlegen (soweit ich sie nach kurzer Lektüre richtig verstanden habe, ich kannte sie bislang gar nicht).
Latour geht gerade nicht davon aus, dass Gesellschaft konstruiert ist, sondern er richtet den Fokus auf die Interaktion zwischen Dingen, Kultur und Menschen, die alle gleichermaßen in einem Netzwerk daran mitwirken, Aktionen durchzuführen. Ein Werkzeug ist genauso Teil einer Handlung, wie der Nutzer des Werkzeuges. Bedeutung schreiben die an einer Handlung beteiligten Aktanten sich erst in der Verknüpfung zur Handlung zu.
1. Semantisch scheint mir das Ungleichgewicht zwischen Agens (sprachwissenschaftlicher Begriff) und patient/undergoer/experiencer/etc zu relevant, als dass ich eine ungewichtete wechselseitige Beeinflussung als adäquates Modell der Realität gelten ließe. Intentionalität und semantische Aspekte wie goal sind ausschließlich auf Seiten des Agens beheimatet. Konstruktivistische Ansätze geben diesen Aspekt der Intentionalität in der Beziehung nicht gleich im Ansatz auf. Die Interaktion von verschiedenen Aktanten ist allerdings ein Aspekt, der anderen Modellen weiteres Erklärungspotential eröffnen könnte.
2. Wenn ich das theoretische Konstrukt des Netzwerkes von Dingen und Menschen auf die Entwicklung des Internetzes anwende, müsste ich konsequenterweise die Zombies im chinese room, künstliche Intelligenz als gleichberechtigten Akteur erwarten. Das tue ich nicht. Ich schreibe zwar in einem konstruierten Modell von Gesellschaft gerne den Dingen eine eigene Handlungsmacht zu, aber nur insofern als sie von Akteuren mit Bewusstsein als Agenten wahrgenommen werden. Menschen schreiben den Dingen in diesen Fällen aber Intentionalität zu – zum Beispiel, wenn wir uns über unseren Rechner aufregen, der uns wieder mal ärgert. Wir könnten sogar von Algorithmen, die mit uns kommunizieren fälschlicherweise wirklich Intentionalität annehmen. Der klassische Touringtest ist jedoch noch kein Garant dafür, dass die Software tatsächlich Bewusstsein erlangt hat. Die verknüpften Daten im Netz, so sehr sie unser Verhalten beeinflussen mögen, bleiben trotzdem im Konstrukt der Gesellschaft den Interpretationen und der Intention ihrer Schöpfer unterworfen.
(PS der Knackpunkt für Akteure ist Bewusstsein und als Gegenpol zu den kühnen Thesen, die Kybernetiker bisweilen vertreten, lege ich meine Hand dafür ins Feuer, dass wir in unserer Lebenszeit kein künstliches Bewusstsein mehr bestaunen dürfen. Unser Verständnis von menschlichem Bewusstsein ist so unvollständig, dass ich aus dem ersichtlichen Ausmaß des Unwissens zuversichtlich die Unmöglichkeit einer Emulation ableiten kann. Gesellschaft wiederum ist ein notwendiger Rahmen, in dem die Regeln der Interaktion von intentionalen und nichtintentionalen Aktanten abgebildet werden können.)