Ein sehr provisorischer, nicht zuendegedachter Gedanke: Können wir den traditionellen Anspruch auf eine Makrotheorie der Gesellschaft und die herkömmliche Vorstellung von sozialem und medialem Einfluss, die von einer Art Pyramide einflussreicher und stufenweise weniger einflussreicher Handelnder ausgeht, zusammen über Bord werfen? Ich weiss, dass ich mich sehr naiv ausdrücke—ich will etwas formulieren, das mir selbst alles andere als klar ist.

Lassen sich zwei Konzepte oder theoretische Entwürfe miteinander verbinden, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben: Latours Kritik an „makrosoziologischen“ Erklärungen und die Kritik an den gängigen Vorstellungen von Influencern, die Paul Adams in seinem Buch Grouped zusammenfasst?

Auf Latours Kritik an Soziologien als Theorien eines gesellschaftlichen Ganzen bin ich gerade wieder durch einige Posts Evan Kindleys zu Latour und Bourdieu in We Have Never Been Blogging gestoßen. Kindley schreibt:

… Latour … totally rejects the predictive and generalizing aspects of Bourdieu’s sociology: the idea that we could extrapolate from data to make large a priori claims about the social world is anathema to him [ein Post geschrieben.

Beide Ansätze widersprechen dem „gesunden Menschenverstand“—oder unseren gewohnten Ideen von der Gesellschaft als einer Einheit, in der es mehr oder weniger relevante oder wichtige kollektive Akteure gibt, die ihrerseits Individuen organisieren oder in denen sich Individuen organisieren. Ich frage mich aber, ob nicht die soziologische Alltagstheorie, in der das Individuum zu bestimmten Gruppen oder Kollektiven gehört, voraussetzt, was sie erkären müsste, nämlich wie solche Kollektive überhaupt zustande kommen, und ob sie nicht andererseits willkürlich von Individuen ausgeht, obwohl die Individuen selbst ebenfalls erklärt werden müssen und es keinen Grund gibt, sie anderen Akteuren, z.B. Gruppen, vorzuziehen.

Ich glaube, dass sowohl die makrosoziologischen Theorien, die Latour kritisiert, wie die PR- und Öffentlichkeitskonzepte, auf die sich Adams bezieht, letztlich bestimmte, durch das Netz überholte Weise, Gesellschaft zu konstruieren, gebunden sind—Methoden, zu denen z.B. die bisherige Statistik, die Meinungs- und Wirkungsforschung, die existierenden Bürokratien usw. gehören. Diese Methoden werden jetzt durch das Netz in ihrer Begrenztheit erkennbar. (Mir ist klar, dass ich möglicherweise selbst „makrosoziologisch“ denke, wenn ich in dieser Weise generalisiere.)

Ich könnte das auch anders formulieren: Lässt sich Adams bzw. der Ansatz, für den er steht, mit Latour und der Actor Network Theory lesen? Dazu würde gehören, die Methoden, auf die er zurückgreift bzw. die er referiert, vor allem die soziologische Netzwerkanalyse, als Methoden zu verstehen Gesellschaft zu „machen“, sie zu konstruieren oder, wie Latour vielleicht sagen würde, zu „komponieren“. Mir geht dabei auch eine Analogie mit der Geschichtsschreibung durch den Kopf: Im letzten Jahrhundert haben vor allem in Frankreich die „Annalisten“ die traditionelle „Ereignisgeschichte“ durch eine „Geschichte der langen Dauer“ ersetzt, in der die Handelnden und Handlungen der alten politischen Geschichte sich als Oberflächeneffekte erweisen und ganz andere Akteure, z.B. der Raum und das Klima, auf den Plan treten. Ähnlich kann man vielleich die individuellen und kollektiven Akteure unseres gewohnten Öffentlichkeitsverständnisses „auflösen“—allerdings ohne sie durch „Metaakteure“, eine eigentliche oder tiefere soziale Realität, z.B. „die Technik“ zu ersetzen.

Ein Kommentar zu “Paul Adams mit Bruno Latour?

  1. Hi Heinz, denke Bruno Latour sollte einigen Medienverantwortlichen ans Herz gelegt werden, wie z.B. „„Gefährliche Extremisten benutzen ebendasselbe Argument von sozialer Konstruktion, um mühsam gewonnene Beweise zu zerstören, die unsere Leben retten könnten.“ („dangerous extremists are using the very same argument of social construction to destroy hard-won evidence that could save our lives.“)“ http://www.bruno-latour.fr/node/165 – und nicht zuletzt „das Wesen einer Sache ist des Öfteren NICHT dadurch untersuchbar, indem ich es bis in die letzten Krümmel auseinandernehme“ oder ersatzweise in den Generationen davor gesucht wird, sonderm im Sein & Wirken & Wechselwirkung zur Umgebung …

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