In ein paar Stunden habe ich in der letzten Woche Ulrich Becks „Was zur Wahl steht“ gelesen. Das kleine Buch ist sehr gut geschrieben, nicht professoral, auch nicht „leitartikelnd“; in einer einfachen, unakademischen Sprache warnt Beck vor dem Irrglauben, es könne nationale Auswege aus den großen sozialen Problemen der Bundesrepublik geben. Allerdings wählt Beck für seine Betrachtung die Vogelperspektive; konkrete politische Empfehlungen gibt er nicht ab.

Das Thema ist alles andere als sensationell: die Misere der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft. Auch Becks Thesen überraschen nicht wirklich: Es wird keine Rückkehr zur Industriegesellschaft und ihrem Ineinander von Wachstum, Vollbeschäftigung und Ausbau des Sozialstaats geben. In Deutschland und in einigen anderen europäischen Ländern löst eine „Gesellschaft des Weniger“ die „Gesellschaft des Mehr“ ab. Die Globalisierung ist nicht zurückzunehmen; Staaten und Organisationen, die wie die Staaten an Territorien gebunden sind, sind gegenüber dem ortsunabhängigen Kapital machtlos. Die einzige Chance, der multinationalen Wirtschaft Paroli zu bieten, ist internationale Kooperation: sei es in internationalen Institutionen wie der Europäischen Union, sei es in Form internationaler Aktionen von Konsumenten, etwa dem Boykott von Unternehmen, die die Menschenrechte missachten.

In dem ersten Teil des Buchs „Was ist“ analysiert Beck die sklerotischen Verhältnisse stringent und streckenweise brilliant: So wenn er die deutsche Gesellschaft, aber auch die SPD und die Gewerkschaften mit dem Gregor Samsa in Kafkas Verwandlung vergleicht. Der will nicht wahrhaben, dass er in ein Insekt verwandelt wurde, und seine vielen Beinchen (lies: Reförmchen) nicht koordinieren kann. Becks Ratschläge im zweiten Teil „Was tun“ bleiben abstrakt. Auf die Analyse folgt wenig mehr als ein langer Appell, die Globalisierung ernst zu nehmen und ihr transnational zu antworten – sich also nicht der Illusion hinzugeben, man könne transnationale Probleme mit nationalen Maßnahmen lösen. Beck richtet seine Vorschläge nicht ausdrücklich an den Bundeskanzler Schröder und die Parteien der deutschen Regierungskoalition. Es ist aber deutlich, dass er den Unionsparteien und Angela Merkel eine Wende zum besseren nicht zutraut, im Gegenteil: eine Intensivierung der neoliberalen Politik auf nationaler Ebene wird, so Beck, die Arbeitslosigkeit nur weiter steigen lassen. Die nationalen Töne, die die CDU anschlägt, ließen befürchten, dass eine konservative Bundesregierung noch weniger als die jetzige Regierung auf internationale Zusammenarbeit setzten wird.

Überraschend wenig fokussiert der Soziologe Beck auf die Gesellschaft der Bundesrepublik. Migration und Multikulturalität sind für ihn Schlüsselphänomene. Worin sich aber die deutsche Gesellschaft von anderen europäischen Gesellschaften abhebt, und worin sich die deutschen Regionen voneinander unterscheiden, interessiert ihn in diesem Essay nicht. Darin sehe ich eine große Schwäche des Buchs. Ich lebe seit fast einem Jahr in Österreich; deshalb fällt mir vielleicht besonders auf, wie stereotyp die deutschen Medien darauf hinweisen können, dass Österreich unter der Globalisierung viel weniger leidet als Deutschland. In Skandinavien sind weniger Menschen arbeitslos als in Deutschland, obwohl man sich dort nicht vom sozialdemokratischen Modell des Wohlfahrtsstaats verabschiedet hat. Aber auch in Deutschland ist die Lage etwa in Südbayern nicht so deprimierend wie in Ostdeutschland oder dem Ruhrgebiet. Ist der Hinweis auf die Altlasten der Industrialisierung die einzige Erklärung für diese Unterschiede? Oder gibt es so etwas wie mikrostrukturelle Unterschiede, die sich z.B in unterschiedlichen Mentalitäten ausdrücken? Sollte die unterschiedliche wirtschaftliche Situation der deutschen und der europäischen Regionen auch mit sozialen und politischen Unterschieden zusammenhängen, gäbe es wenigstens Chancen, ihr auch durch lokales Handeln und regionale Maßnahmen zu begegnen, etwa durch gezielte Förderung von sozialen Dienstleistungen und durch eine Auseinandersetzung mit innovationsfeindlichen Voreinstellungen.

Der folgende Gedanke ist vielleicht für einen Linken etwas ketzerisch oder „ökonomistisch“, aber vielleicht führt er doch zu Erkenntnissen: Wenn ein Unternehmen in einer Krise ist, lässt es sich beraten und analysiert systematisch seine Schwächen. Meist liegen ihre Ursachen in der Struktur der Unternehmens. Dem Unternehmen hilft es nicht, auf globale Bedingungen hinzuweisen, es muss sich durch Innovation auf eine veränderte Umgebung einstellen. Es muss eine Antwort finden, die sich nicht einfach aus den bestehenden Bedingungen ableiten lässt, die also im weitesten Sinn „kreativ“ ist. Gute Berater erlauben es einem Unternehmen, eine solche „kreative“ Antwort zu geben. (Schlechte Berater geben selbst eine schon bekannte Antwort.) Es hilft dem Unternehmen nicht, darauf hinzuweisen, dass es seine Probleme nur durch internationale Kooperation lösen kann; es kann ihm aber helfen, Partnerschaften mit anderen Unternehmen einzugehen.

Ähnlich müssen sich auch Regionen oder Länder evolutionär verändern, um sich auf neue Bedingungen einzustellen. In Deutschland und vor allem in den alten deutschen Industrieregionen sind die Bedingungen für solche evolutionären Veränderungen möglicherweise besonders ungünstig, weil es dort lange keine qualitative Evolution gab. Südbayern oder auch Österreich haben sich dagegen seit der Nachkriegszeit bereits tiefgehend verändert und gelernt, nach neuen Antworten zu suchen. In Europa und wohl auch in den USA sind die Regionen wirtschaftlich am erfolgreichsten, die gesellschaftlichen Wandel und die rasche Veränderung von Mentalitäten am meisten begünstigen. Dazu gehört ein hohes Maß an Internationalität – der „Kosmopolitismus“, den Beck zu Recht preist. Würde Becks „bird’s eye view“ hier durch Mikronalysen ergänzt, ergäben sich vielleicht Modelle dafür, sozialen Wandel durch politische Maßnahmen zu unterstützen und aus den Betroffenen Beteiligte zu machen.

Ein Kommentar zu “Ulrich Beck: "Was zur Wahl steht"

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