Im Vorfeld des PolitCamps möchte ich auf Clay Shirky hinweisen, dessen begriffliches Instrumentarium die politischen Konsequenzen des Internets sehr gut begreifbar macht: Shirky analysiert die Folgen des Netzes für die Handlungen von Gruppen und kommt zu dem Ergebnis, dass das Internet kollektive Handlungen (collective actions) in einem Ausmaß erleichtert, das es in der Geschichte nie gegeben hat.

Im April ist Shirky Buch Here Comes Everybody: The Power of Organizing Without Organizations erschienen. Über diesen Text (ich habe ihn selbst noch nicht gelesen) ist bisher in der Blogosphäre eher wenig zu finden. Über zentrale Thesen informieren eine Rezension (einschließlich eines langen Interviews mit Shirky) auf Arstechnica und dieses Video (in besserer Qualität hier) mit einem Vortrag Shirkys im Berkman Center der Harvard University:

In dem Vortrag im Berkman Center unterscheidet Shirky vier Formen von Gruppenbildung, die das Internet unterstützt:

  • Teilen (sharing)
  • Unterhaltung (conversation)
  • Zusammenarbeit (cooperation)
  • Kollektives Handeln (collective action)

Für Teilen, Unterhaltung und Zusammenarbeit finden sich im Netz heute jede Menge Beispiele. del.icio.us zeigt, wie Informationen im Netz geteilt werden können, zur Unterhaltung fällt einem sofort die Blogosphäre, zur Zusammenarbeit die Wikipedia ein. Die Zeit des webgestützten kollektiven Handelns beginnt für Shirky gerade erst. Das Web macht gemeinsame Aktionen lächerlich einfach, wie er sagt. Gesellschaft und politische Institutionen stehen damit vor einem fundamentalen Wandel.

Shirky bringt zwei Beispiele für erfolgreiche kollektive Aktionen, die über das Web organisiert wurden: Die Koalition für eine Bill of Rights der Fluggäste hat es in wenigen Monaten geschafft hat, dass im Staat New York ein entsprechendes Gesetz verabschiedet wurde (mehr dazu hier). In Palermo setzt sich die Zivilgesellschaft mit Addiopizzo weit wirksamer als bisher gegen die Mafia zur Wehr.

Für Shirky entfalten Techniken ihre gesellschaftlichen Konsequenzen erst, wenn sie langweilig geworden sind; dieser Moment sei beim Internet erreicht:

As the Internet radically reduces the costs of collective action for everyone, it will transform the relationship between ordinary individuals and the large, hierarchical institutions that were a dominant force in 20th-century societies [Arstechnica].

Shirkys Verständnis der kollektiven Aktion ist sicher einen Essay wert (zu dem ich hoffentlich komme, wenn ich das Buch tatsächlich gelesen habe): Der Begriff des kollektiven Handelns stammt aus der soziologischen und volkswirtschaftlichen Tradition; er wird z.B. auch von Howard Rheingold verwendet, um die Bildung von Gruppen im Internet zu erklären; er ist wie der Begriff des sozialen Netzes ein Schlüsselkonzept für einen kritischen Diskurs über das Web. Beim Politcamp könnte man ausgehend von diesem Begriff zwei Fragenkomplexe angehen:

  1. Welche neuen Formen des politischen kollektiven Handelns werden durch das Internet möglich? Welche Beispiele für sie gibt es? Welche Techniken lassen sich dabei verwenden? Wie werden sie sich auf die Gesellschaft auswirken? In welcher Beziehung stehen sie zu älteren Formen kollektiven Handelns jenseits der politischen Institutionen z.B. Bürgerinitiativen?

  2. Wo können oder müssen die bestehenden politischen Institutionen durch webbasierte kollektive Aktionen verändert werden? Wo verdienen sie erhalten zu werden, wo nicht? Was bedeutet politische Professionalität in Zeiten des Internets? Wie verändert sich das Verhältnis von Politik und Medien, wenn prinzipiell alle Informationen allen Bürgerinnen im Web zugänglich gemacht werden können? Haben die Parteien in einer Internetdemokratie noch eine sinnvolle Funktion?

Wenn Shirky Recht hat, wenn die Zeit des kollektiven Handelns im Web beginnt, findet unser Politcamp zum richtigen Zeitpunkt statt. Wir sollten die Gelegenheit nutzen und ohne Tabus fragen, welches Veränderungspotenzial das Netz für die Politik hat.

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