Als Überschrift für einen Teil unserer Arbeit beim Web Literacy Lab geht mir immer wieder etwas durch den Kopf wie Warum nerven Websites? Eine Antwort auf diese Frage kann man mit einem Begriff von Karl E. Weick geben: Websites nerven, weil sie eine feste Kopplung von Informationen versuchen, wo nur lose Kopplung möglich ist. Die Websites von Organisationen sind bürokratische Phantasien. Deshalb sind sie unsexy und in der Realität größtenteils nutzlos.

Ich lese gerade Weicks Buch Making Sense of the Organization. Weick beschäftigt sich darin u.a. mit der Rolle der Rationalität in Organisationen. Seine Argumentation ist subtil und nicht gut thesenartig zusammenzufassen. Weick untersucht Organisationen nicht als mehr oder weniger statische Einheiten sondern als Ergebnisse von Interaktionen, in denen sie immer wieder neu konstruiert werden. Wie Organisationen arbeiten, hängt meist viel weniger von rationaler Planung ab, als es die Organisationen nach außen vorgeben. Im Anschluss an Jeffrey Pfeffer beobachtet Weick, dass Organisationen Rationalität als eine Fassade benutzen, wenn sie über Ziele, Planung, Absichten und Analyse sprechen. Der Grund dafür liege nicht darin, dass diese Praktiken tatsächlich funktionieren, sondern dass die Leute, von denen die Organisation ihre Ressourcen erhält, glauben, dass solche Praktiken funktionieren und ordentliches Management signalisieren (S.35):

Organizations use rationality as a facade when they talk about goals, planning, intentions and analysis, not because these practices necessarily work, but because people who supply resources believe that such practices work and indicate sound management (Pfeffer 1981, pp. 194-196).

Die Struktur der meisten komplexen Organisationen lässt sich mit dem Konzept der losen Kopplung erfassen, wie es Weick selbst ursprünglich bei der Analyse von Bildungsinstitutionen entwickelt hat. Die Verantwortung ist an Gruppen, nicht an Individuen delegiert, die auch auf unteren Ebenen weitgehend autonom agieren können. Fragen der Autorität, Legitimität und Nichtunterordnung stellen sich wie in den Universitäten nur selten in scharfer Form (S. 39):

Questions of authority, legitimacy and insubordination are greatly attenuated in universities, but the same is true in other organizations in which the ties among subsystems are loose and responsibility is delegated to groups rather than to individuals… the loosely coupled university structure is a prototype for all complex organizations in which lower-level segments act like top management.

Aus meiner persönlichen Erfahrung in einem großen Konzern und in einer Hochschule kann ich viele Belege für Weicks These anführen. Hier interessiert mich aber vor allem, dass Organisationen sich nach außen, gegenüber den Stakeholdern, von denen sie abhängen, deutlich rationaler geben, als sie tatsächlich funktionieren. Genau das ist offenbar auch die Funktion von Firmen-Websites, in denen sich Organisationen als planvoll geordnete Apparate präsentieren, in denen vom letzten Produkt bis zum Mission Statement alles in nachvollziehbarer Weise miteinander zusammenhängt.

Das Problem des Formats Firmen-Website oder Organisations-Website ist, dass sie zu dieser Art von fester Kopplung von Informationen zwingt, für die es sonst gar keine Notwendigkeit gibt. In allen anderen internen und externen Publikationen kann man sich auf Teilaspekte beschränken. Selbst das Top-Management muss die eigene Firma nur unter Teilaspekten als ein Ganzes wahrnehmen. Dabei sind die Prinzipien, nach denen in einer Website Informationen miteinander verbunden sind, wiederum viel simpler und statischer als es selbst eine relativ einfache Organisation sein kann.

Hinzu kommt, dass die Strukturen von Websites statisch sind, während sich Organisationen permanent verändern. Außerdem zwingen die meisten Websites bzw. Content-Management-Systeme den einzelnen Einheiten in einer Organisation ein Schema auf, das ihren Besonderheiten nicht entspricht.

Ich weiss, dass ich hier sehr allgemein argumentiere. Ich bin mir auch sicher, dass es diese Argument in differenzierterer Form schon gibt. Ich versuche hier nur, „laut zu denken“ um Konzepte von Weick für die Analyse von Publikationsformen fruchtbar zu machen. (Leider habe ich meinen ersten Versuch in dieser Richtung damals nicht fortgesetzt.)

Das Ergebnis dieser Überlegungen ist, dass sich komplexe Organisationen nicht in Websites abbilden lassen. Das Format der Organisations- oder Firmenwebsite funktioniert als solches nicht. Organisationen müssen ihre Webangebote als Publikationen oder Applikationen verstehen, die spezifische Zwecke haben, auf unterschiedlichste Weise miteinander verbunden sein können, aber nie eine Organisation ihrer Ganzheit oder als Ganzheit abbilden können—weil Organisationen keine Ganzheiten sind.

6 Kommentare zu “Warum Websites nerven

  1. Da halte ich dagegen: Schlechte Websites nerven. Wenn eine Organisation oder Firma nur lose gekoppelt ist, dann kann eine gut geplante Website das abbilden. Ein großes Dilemma sind Navigationskonzepte, mit denen man manchmal brechen muss um eine Firmenstruktur abzubilden. Aber welcher Nutzer kommt denn auf eine Seite um eine Firmenstruktur zu sehen? Ihn interessieren die Informationen, die sucht und findet er über Google. Wenn die Website es schafft den Nutzer da abzuholen, wo er steht und weiter durch das Angebot zu weiteren relevanten Angeboten zu leiten, dann ist das Ziel der Website erreicht.

  2. Da gebe ich dir natürlich Recht! Ich habe mich absichtlich überspitzt ausgedrückt. Die meisten Präsentationen sind schlechte Powerpoints – das bedeutet nicht, dass es keine guten Präsentationen gibt. 
    Aber gehört es nicht zur guten Website, dass man sie als Publikation mit einem bestimmten Ziel sieht? Auch Kataloge und Enzyklopädien sind Publikationen, aber sie beschränken sich darauf, für alles Weiterführende auf andere Publikationen zu verweisen. Viele Websites kommen mir vor, als wollten sie gleichzeitig Katalog, Inhalt und auch noch Beschreibung des Verlags sein.

  3. ich habe dieses phänomen auch schon bei meinen privaten webseiten versuchen gesehen.
    gerade im privaten bereich ändert man sich so oft und hällt auf einmal andere strukturen oder gedanken für wichtig, das man seinen internetauftritt permanent überarbeiten müsste.
    das resultat meiner überlegungen endete ebenfalls in deiner erkentniss das das problem darin liegt, das ich eher lose informationen in einer festen struktur veröffentlichen wollte, was sich aber an sich gegenseitig ausschliest.
    mein lösungsansatz war nun ein wiki system zu verwenden um eben jehne lose informationen online zu stellen und untereinander zu verknüpfen.
    jedoch kommt dieses dem spruch „mit kanonen auf spatzen schießen“ gleich, weshalb ich in meiner verzweiflung aufgegeben habe und nun garnichts mehr mache, auser privat wieder auf onenote oder direkt auf papier meine gedanken zu schreiben.
    im wirtschafftlichen sinne würde ich hier aber andere argumente anbringen.
    die frage ist in zeiten von google nicht mehr, was ist alles in einer webseite drinn, sondern eher, „was soll in der webseite sein“.
    da mir das ganze mit beispielen immer leichterfällt möchte ich hier mal die firma samsung ins boot holen.
    es gibt zwei seiten.
    einerseits samsung, die sich möglichst gut präsentieren oder verkaufen wollen und auf der anderen seite den kunden, der gezielt nach bestimmten dingen sucht.
    zu beobachten ist der effekt das heute die leute sich kaum noch zeit nehmen um eine seite mit ihrer struktur überhaupt zu erfassen um an den online-support oder den produktkatalog zu erreichen.
    die meisten geben in google das ein was sie wünschen und werden dann extern auf die richtige seite von samsung verwiesen.
    wenn man nun als endverbraucher probleme hat, oder ein bestimmtes modell sucht, kommt man aber auch oft auf andere seiten, die nicht mit der firma samsung in verbindung steht.
    zum beispiel einen ganz bestimmten laptoptyp, den samsung nicht auf der eigenen seite hat, den findet man dan in anderen portalen wie notebooks-billiger oder so.
    also könnte man doch eher aus der frage „was soll überhaupt auf der seite zu finden sein“ die these aufstellen, das firmen eigendlich eher ihre internetauftritte dazu verwenden sollten um neuheiten zu veröffentlichen oder bestimmte andere sachen zu puplizieren. das abbilden irgendwelcher strukturen ist daher schon fast überflüssig und nur unnötig geworden, denn wenn jemand länger als 15 sekunden nach etwas sucht, gibt ers auf und bemüht google.
    andere produktinformationen wie onlinekataloge, werden eher unnötig, da diese von drittanbietern bereits implementiert wurden und ein höheres spektrum an modellen und vergleichsmöglichkeiten bieten als es der hersteller selber tut.
    jedoch schmachten bei samsung zur zeit alle welt nach dem neuen samsung galaxy s3, bei dem sich samsung aber bewust in scheigen hüllt und dadurch einen enormen aufwärtstrend (zuletzt sogar an der börse) erreichte.
    die endkunden sind aber immer sehr schwer enntäuscht, wenn nun tatsächlich eines tages die veröffentlichung erfolgt, diese aber nicht durch die eigene webseite geschieht. so wird dann irgend ein 0815-internet-möchtegern-nachrichten-sender behaupten das es nun losgeht und die ersten bilder veröffentlichen. ein blick auf die firmeneigene samsung weibseite hingegen vertröstet einen noch immer…
    das ist verwirrend und unseriös da es einmal mehr dazu führt das die webseite weniger besucht wird und google mal wieder gewonnen hat.
    so, ich hoffe mein beitrag war nicht zu populärwissenschaftlich formuliert, aber ich wollte auch etwas zu dem thema beitragen, da mich das auch beschäftigt und SEHR NERVT…

  4. Danke für diesen Beitrag, das ist sehr gut auf den Punkt gebracht und sehr interessant – sowohl die Ausgangsthese Weicks als auch die Anwendung auf das spezifische Problem der Websites komplexer/großer Organistationen.
    Note to self: Unbedingt diesen Blogartikel hier zitieren, wenn ich das nächste mal über Webpräsenzen von Bibliotheken o.ä. vortrage oder schreibe.

  5. Mir gefällt die Verknüpfung von Webkommunikation von Unternehmen mit dem Organisationskommunikationskonzept von Weick richtig gut – endlich ein metatheoretischer Rahmen, der Brauchbares abwirft.
    Ich beschäftige mich zwar nicht mit der Außenwirkung von Unternehmen (beispielsweise in Form von Websites), sondern mit unternehmensinternen Interakten und Prozessen. Aber letztendlich greift das bei Weick alles ineinander. Ich bin überzeugt, dass man durch die Analyse der Kommunikation der Mitarbeiter untereinander viele interessante, vielleicht auch unerwartete Dinge herausfinden kann. Und da sind die losen und festen Koppelungen sicher ein Schlüsselkonzept.

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