Gestern bin ich mit Julian zu der Tagung zur multimedialen Zukunft des Qualitätsjournalismus gefahren. Sie gehört zu dem public-value-Forschungsprojekt der Kollegen von der FH Wien um Reinhard Christl und des ORF. Leider kann ich heute nicht an der Fortsetzung teilnehmen.
Zu den meisten Inhalten und dem zentralen Thema des Wertes öffentlich-rechtlicher Medien für die demokratische Öffentlichkeit könnte ich nicht viel Originelles sagen. Viele Informationen dazu und zu den bisherigen Forschungsergebnissen finden sich auf der Projekt-Website, auf der auch die Tagung dokumentiert werden wird. Für mich neu war eine Argumentation, die in den Vorträgen und Diskussionen gestern immer wieder belegt und begündet wurde: Welchen Wert das Publikum öffentlich-rechtlichen Medien, konkret dem ORF, zuschreibt, lässt sich nicht allein aus Quoten ablesen. Armin Wolf sagte, dass viele Jugendliche die Fernsehnachrichten des ORF wie eine Sozialleistung sehen: Man braucht sie meist nicht, aber man will, dass sie da ist. Diese Haltung gibt es nicht nur bei Jugendlichen: Die Bevölkerung will einen öffentlich-rechtlichen Qualitätsjournalismus, auch wenn sie ihn nur selten nutzt. Selbst wenn nur Minderheiten die Angebote sehen oder hören—die Mehrheit möchte nicht, dass sie verschwinden, und wünscht, dass sie mit Gebühren bzw. öffentlichen Mitteln finanziert werden.
Mich interessiert auch in Verbindung mit dem public value vor allem der Medienwandel durch das Internet. Deshalb waren für mich die Vorträge von Christoph Neuberger und Armin Wolf am wichtigsten. Neuberger zeigte unter dem Titel Medienöffentlichkeit im Wandel: Der Weg zum fordernden und transparenten Publikum empirisch, welche Feedback-Schleifen für die Massenmedien bereits genutzt werden. Dafür untersuchte er drei Formen der Publikumsartikulation: Unvermittelte Kritik (etwas in persönlichen Blogs), Vermittlung durch medienkritische Websites (wie BILDblog oder CARTA), Kritik auf der Site des Anbieters (etwa dem Blog der Tagesschau). Christoph Neubergers Präsentation habe ich noch nicht online gefunden. Seine Ergebnisse zur Nutzung des Webs in Redaktionen finden sich u.a. in Journalismus im Internet (PDF). In der Diskussion wiederholte Neuberger die Kritik an der These von der Fragmentierung des Publikums im Internet, die er im Versuch über das Internet (PDF) formuliert hat.
Armin Wolf präsentierte ein Kapitel seiner MBA-Arbeit „News kind of comes to me…“ Young Audiences, Mass Media, and Political Information (PDF). Er belegte sehr genau, wie radikal sich der Nachrichtenkonsum der jungen Leute in den USA und zunehmend auch bei uns verändert. Nachrichten werden als ein ständiger, im Netz fließender Strom wahrgenommen, in den man bei Bedarf tief eintauchen kann. Soziale Netzwerke und Suchmaschinen stellen sicher, dass man persönlich wichtige Nachrichten bekommt. Wolf widersprach scharf allen Erwartungen, die jetzt Jugendlichen würden irgendwann zu den älteren Formen des Nachrichtenkonsums, vor allem den Fernsehnachrichten zu feststehenden Zeiten zurückkehren. Die Abkehr von Sendungen wie der ZIB ist kein Altersphänomen, sondern sie ergibt sich aus Sozialisation in einer medialen High Choice-Umwelt. Wie erwähnt, wollen die Jugendlichen aber nicht, dass Sendungen wie die ZIB verschwinden. Als Strategien für die Nachrichtenmacher ergibt sich für Wolf eine behutsame Erweiterung des Politikbegriffs und die Integration sozialer Medien. In der Diskussion kündigt er an, es werde die ZIB bald auf Facebook geben. Dass der ORF jetzt gesetzlich gezwungen ist, sich online einzuschränken, ist für ihn skandalös.
Neuberger und Wolf, auch Regula Troxler und Birgit Stark, die im selben Panel Studien zur Reputation des ORF präsentierten, zeigen, dass der Wandel durch die Online-Medien unumkehrbar ist. Bei einigen der anderen Redner hatte ich den Eindruck, dass sie das Web doch noch eher als eine vorübergehende äußere Störung verstehen. Ich will ein Event wie die Wiener Tagung nicht überinterpretieren—für mich macht es deutlich, dass das Web ins Zentrum des Diskurses über Medien in Österreich gerückt ist, trotz der ritualisierten Behauptungen über die Gesundheit der Printmedien und die Reichweiten des ORF.
Mir ist während der Tagung ein Thema im Kopf herumgegangen, das mit ihr nur indirekt zu tun hat, aber mich immer mehr beschäftigt: die peer production. Ich kann mich noch gut erinnern, dass vor 10 Jahren immer wieder gesagt wurde: Die Leute suchen Informationen im Internet, aber wenn sie etwas Verlässliches brauchen, werden sie zu redaktionell betreuten Nachschlagewerken greifen. Diese Argumentation ist durch die Wikipedia verstummt, die durch peer production aufrechterhalten wird. Bei den News-Medien gibt es noch kein Pendant zur Wikipedia, obwohl Twitter schon zeigt, was möglich ist. Der Zeitpunkt ist gekommen, in den Diskussionen über den Medienwandel auch die Produktionsweise zu berücksichtigen, nicht nur neue Formate und neue Beziehungen von Produzenten und Publikum. Christoph Neuberger und Armin Wolf haben gestern beide darauf bestanden, dass das Internet mehr ist als ein Medium. Dazu gehört, dass es die gemeinsame Produktion von Gemeingütern, also Gütern mit public value erleichtert—wenn sich das auch bei Nachrichten erst in Ansätzen zeigt. Public value creation könnte ein wichtiger Aspekt der Debatten über public value werden, wenn das Internet als Umgebung verstanden wird, in der man nicht nur kommunizieren, sondern sich auch organisieren und gemeinsam handeln kann.