Ich habe neulich über Senioren und Netz gebloggt, als Vorbereitung für einen Vortrag, den ich heute beim 2. Ambient Assisted Living-Forum halte. Damals hatte ich mir unter den zu lesenden Büchern Paul B. Baltes‚ nachgelassenes Manuskript Wisdom as Orchestration of Mind and Virtue (PDF!) notiert. Jetzt bin ich wenigstens dazu gekommen, für ein paar Stunden hineinzusehen, und ich möchte noch einen Gedanken ergänzen.
Baltes ist Vertreter der life long development psychology. Entwicklung hört in diesem Konzept nie auf. Sie kann sich an Idealen wir personal growth und eben der Weisheit orientieren. Weisheit ist ein Metawissen über die Pragmatik des Lebens. Für Baltes handelt es sich bei ihr um ein empirisch beschreibbares Phänomen. Allerdings ist für Weisheit auch charakteristisch, dass man sie sich nicht selbst zuschreibt. Ein weiser Mensch sagt und denkt nicht von sich, dass er weise ist.
Wenn ich Baltes richtig verstehe, dann ist Weisheit bei ihm ein Ergebnis der fortgesetzten Erfahrung komplexer, nicht auflösbarer Verhältnisse. Sie ist auch ein Ergebnis von Verbindungen oder Verknüpfungen, die einem weisen Menschen gelungen sind. Die Verbindungen sind dabei auch ein soziales Phänomen. Man kann, wenn man überhaupt weise sein kann, wohl nicht allein weise sein.
Die Haltung oder Leistung, die Baltes als Weisheit bezeichnet, erinnert an Beschreibungen von Haltungen, die sich aus dem Umgang mit der Komplexität des Netzes ergeben. Ich denke an den Konnektivismus, bei dem Lernen das Knüpfen von Verbindungen ist, oder auch an Methoden des Umgangs mit überkomplexen, nicht linearen Verhältnissen, wie ihn Vertreter des Wissensmanagements beschreiben. Ton Zijstra hat im Juni in Graz über Lernen in der Netzwerkgesellschaft gesprochen und diese Denkrichtungen erwähnt.
Wir glauben oft intuitiv, dass ältere Menschen schlechter mit den Innovationen im Web umgehen können als jüngere. Dieses Bild setzt ein sehr simples Konzept der menschlichen Entwicklung voraus, bei der man nur in den früheren Lebensphasen wirklich Neues aufnimmt und dann von dem zehrt, was man in jungen Jahren erworben hat. Es basiert außerdem auf einer einfachen, linearen Vorstellung von Fortschritt und Innovation.
Wenn die Innovation aber permanent ist und Fortschritte sich nicht mehr linear beschreiben lassen, dann befähigt lange Erfahrung vielleicht sogar dazu, immer besser—weiser—mit Veränderungen umzugehen. So gesehen könnten ältere Menschen sogar Vorteile beim Umgang mit Innovationen und Komplexität haben. Sie müssen sich aber dazu auf die permanente Veränderung ihrer Alltagswelt als Normalität eingestellt haben.
Im Web wird es keine Rückkehr zu so etwas wie einer normalen Medienwelt geben. Die Leistungsfähigkeit der Hardware vergrößert sich exponentiell. Veränderungen bei Computern, also frei programmierbaren Maschinen, sind letztlich nur durch die Kreativität der Entwickler eingeschränkt. Das Netz sorgt außerdem dafür, dass sich Innovationen extrem schnell ausbreiten. So entsteht Überkomplexität als Dauerzustand.
Diese Situation ist eine Chance für das Älterwerden, nicht eine Gefahr. Wenn man älter wird, braucht man vielleicht länger, um sich an einzelne Innovationen zu gewöhnen. Aber es wird leichter, zu Lebensformen zu finden, die der permanenten Innovation selbst Rechnung tragen.

3 Kommentare zu “Senioren im Netz: Altern, Komplexität und Weisheit

  1. Hallo Heinz,
    nochmals herzlichen Dank für Deinen hervorragenden Vortrag am AAL-Forum. Auch durch die innovative Nutzung von Pinterest als Präsentationsmedium für Deinen Vortrag hast Du einen kreativen Weg für die Wissensvermittlung verwendet.
    LG
    Alex

  2. ….. sollte sich einer/eine herausnehmen mich Seniorin zu nennen, dem/der rate ich zuerst seine/ihre dritten Zaehne in Sicherheit zu bringen

  3. Leider sind es nicht nur die simplen Menschen, die vom simplen Konzept der menschlichen Entwicklung ausgehen, bei der man nur in den früheren Lebensphasen wirklich Neues aufnimmt. Obwohl Hirn- und Lernforschung längst verstehen, dass lebenslanges Lernen möglich und der Normalfall ist, finden Konzepte wie „Digital Natives“ und „Digital Immigrants“ immer noch Erwähnung. Ich bin nie eingewandert. Die digitalen Instrumente wuchsen um mich herum empor und ich wendete sie an, seit sie verfügbar waren, auf so natürliche Weise, wie es meine Eltern mit dem Telefon, dem Auto und dem TV machten. Andere bedienten sich der digitalen Instrumenten nicht, weil sie daran nicht interessiert waren. Das ist der Grund, warum es Alte gibt, die nicht mit digitalen Medien umgehen können: weil sie nicht woll(t)en. Umgekehrt bin ich immer wieder erstaunt, wenn meine 20 bis 25 jährigen Studenten ihre Papieragenden pflegen oder eine einstündige Einführung in die Bedienung von Tablet Computer benötigen, bevor man sie im Unterricht einsetzen kann. Auch „Digital Natives“ müssen sich entscheiden, ob sie digitale Medien einsetzen wollen oder nicht. Das hat nichts mit dem Alter zu tun. Der einzige Unterschied ist, dass es bisher mehr oder weniger freiwillig war, sich den digitalen Medien zu entziehen, während sie mit dem Vorrücken des Web 2.0 zu einer Kulturtechnik werden, vergleichbar mit Lesen, Schreiben und Rechnen. Es wird nicht mehr möglich sein, sich dagegen zu entscheiden.

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