Am Montag hatten wir den ganzen Tag Masterprüfungen am Studiengang. Drei der in den Masterarbeiten vorgestellten Projekte ähnelten sich sehr. Wie ähnlich sie sich waren, ist mir erst später beim Nachdenken so richtig aufgegangen. (Ich nenne sie jetzt nicht, weil zwei der Arbeiten gesperrt sind, und weil ich hier Dinge aus ihnen—und anderen Arbeiten—ableite, die sich nicht 1:1 auf diese Beispielfälle rückübertragen lassen. Aber ich komme zu diesen Aussagen aufgrund der drei gründlichen und analytisch durchgeführten Masterarbeiten. Ich bedanke mich für jede Aussage, die ich hier formuliere, bei den Verfasserinnen—wobei ich meine, nicht ihre Meinung ausdrücke.)
In allen drei Fällen beschäftigen sich die Absolventinnen mit Corporate Websites. In allen drei Fällen handelt es sich um komplexe Unternehmen, die mit unterschiedlichen vorhandenen Websites bzw verschiedenartigen Inhalten umgehen müssen. In allen drei Unternehmen sind, wie üblich, die Websites quasi naturwüchsig entstanden. Inhalte wurden aus verschiedenen Gründen produziert, und es fehlte wohl immer eine kompetente zentrale Verantwortung für sie. Jetzt besteht wiederum in allen drei Fällen ein Problembewusstsein: So kann es nicht weitergehen. Es ist auch, wenigstens zum Teil und sicher bei unseren drei Studierenden, ein Verständnis dafür vorhanden, dass sich die Geschäftsprozesse selbst immer mehr ins Netz verlagern werden und dass die Kunden oder Zielgruppen, um die es geht, in Zukunft über Inhalte mit dem Unternehmen in Kontakt treten werden und diese Inhalte online finden wollen.
Use cases für die Rolle von Contentstrateginnen in Change-Prozessen
Ich weiß nicht, ob es eine perspektivische Verzerrung ist, die sich jetzt aus den Masterarbeits-Projekten ergibt: Aber ich habe auch in allen drei Fällen den Eindruck, dass unsere Studierenden mit ihrem Contentstrategie-Wissen verständlich machen können, was notwendig wäre, dass aber noch ein langer Weg zu gehen ist, bis tatsächlich eine Contentstrategie umgesetzt wird. Diese typische Situation wirkt sich auf Masterarbeits-Projekte auch so aus, dass diese zwangsläufig eine Überforderung darstellen, da eine einzelne Person für eine Organisation oder Community denken muss, die vieles von dem gemeinsam entwickeln müsste, was in einer solchen Arbeit empfohlen wird.
Welche Rolle werde Leute mit einem abgeschlossenen Contentstrategie-Studium in Zukunft einnehmen, wenn sie, wir in diesen drei Fällen nicht als externe Beraterinnen tätig sind, sondern als content strategists in residence? Für unseren Studiengang hoffe ich, dass wir weiter verfolgen können, wie sich diese Projekte entwickeln. Da wir jetzt—auch durch viele andere Arbeiten—vergleichbare Darstellungen und Analysen unterschiedlicher Unternehmen haben (die wir allerdings oft leider nicht veröffentlichen können, weil es sich um vertrauliche Firmeninformationen handelt), können wir auch sehen, zu welchen Veränderungen es durch die Intervention unserer Studierenden tatsächlich kommt. Idealerweise können wir in ein oder zwei Jahren auch sagen, zu welchen Ergebnissen das geführt hat.
Inhaltsstrategie und Geschäftsanalyse
Ein Punkt, der mir bei allen drei Projekten wie auch bei einigen früheren Masterarbeiten aufgefallen ist, betrifft die Verbindung von Contentstrategie, Digitalisierung und Analyse von Geschäftsprozessen. Die neuen Websites beziehungsweise Website-Teile, um die es in diesen drei Fällen geht, sind dadurch motiviert, dass die Firmen oder Einrichtungen, die sie publizieren, zunehmend ihr Kerngeschäft auf die digitale Wirtschaft umstellen. Damit wird die Website zu einer Applikation oder Anwendung, die zentrale Aufgaben der Unternehmen übernimmt. Sie hat Business-Funktionen, die weit über das Marketing (im üblichen, direkt verkaufsbezogenen Verständnis) hinausgehen. In den drei konkreten Fällen, die die Absolventinnen behandelt haben, hat der Inhalt die Hauptaufgabe:
- Verbraucher, vor allem Hausbesitzer und -planer so über komplexe umwelttechnische Produkte und ihren Sinn zu informieren, dass sie sich für das für sie richtige Produkt entscheiden können,
- Gründerinnen/Gründern in einer Region umfassend das relevante Wissen für den Start und die Startphase eines Unternehmens zu vermitteln,
- Patientinnen und Patienten in einer Kureinrichtung so über die Einrichtung, die Behandlungen und die Abläufe zu informieren, dass sie das für das Gelingen der Kur nötige Vertrauen entwickeln.
Der Content wird geschäftsrelevant—unabhängig von seiner Aufgabe, Kunden anzuziehen. Man muss anmerken, dass dieser Zusammenhang nicht immer wirklich durchschaut wird bzw. dass es in fast allen Unternehmen bewussten oder unbewussten Widerstand gegen ihn gibt. Für die Contentstrategie bedeutet das jedenfalls, dass man die Rolle des Inhalts in Verbindung mit den Geschäftsprozessen oder der Geschäftslogik in ihrer ganzen Kompexität begreifen muss, dass man also braucht, was auf Englisch Business Analytics heisst. Content hat eigene Ansprüche und Regeln und geht in seiner geschäftlichen Funktion nicht auf, aber als Contentstrategin oder -stratege man muss beides in Beziehung zueinander setzen, also den Anwendungskontext genau verstehen. Das müssen wir im Curriculum stärker berücksichtigen.1
„Content first!“ gilt auch für Markenbotschaften
Ein Risiko besteht dabei in der—aus meiner Sicht zweifelhaften—Rolle, die die Markenpolitik vieler Organisationen spielt. Viele folgen demselben Muster: Sie legen auf das Markenbild einen sehr großen Wert und beschäftigen sich mit den Userinnenn und Usern bei der Definition bzw. ständigen Reaffirmation ihrer Marke nur minimal—wenn überhaupt. Sie bemühen sich vor allem darum ihre eigene Identität oder das, was sie als solche verstehen, für sich selbst zu definieren. Das ist in der Contentstrategie, wie Doris Eichmeier und Margot Bloomstein immer wieder schreiben, etwas Wesentliches, ist aber keine Rechtfertigung für eine Selbstfixierung, welche die empirische Beschäftigung mit den Adressatinnen und Adressaten in einer Anwendungssituation blockiert.
Pragmatisch würde ich mich in Zukunft bei der Definition von übergreifenden Botschaften an dem Strategiekonzept orientieren, das Kristina Halvorson in ihren neuen Posts und Präsentationen beschrieben hat. Ich würde also vor allem fragen
- Was ist die Vision einer Firma?
- Was ist die Mission einer Firma?
- Welche Ziele leiten sich aus ihr ab.
Wenn z.B. eine Industrie- und Handelskammer die Vision hat, dass sie der kompetenteste Ansprechpartner für ihre Klientel ist, dann gibt ergibt sich daraus im konkreten Fall der Gründerberatung die Mission, die Gründer so umfassend neutral und unabhängig von eigenen wirtschaftlichen Interessen wie möglich zu informieren. (Das ist jetzt nur eine fiktive Arbeitsdefinition die noch nicht weiter reflektiert ist.) Aus dieser Mission leiten sich dann die zentralen Botschaften ab. Sie müssen diese Mission kommunizieren. Dabei sind aber die businessrelevanten Inhalte nicht unmittelbar ein Ergebnis der Mission, sondern stehen in Verbindung mit einem konkreten Geschäftsziel. Das Ziel wäre in diesem Fall zum Beispiel, der wichtigste und gerne aufgesuchte Informationsanbieter für Gründer in einer bestimmten Region zu sein. Dieses Ziel wird mit Content unterstützt, der in der Applikation bzw. dem Teil der Website der Industrie- und Handelskammer für Gründer diese Informationsaufgabe hat. Daraus ergibt sich dann erst so etwas wie die Marke, die kommuniziert wird—das figurative Design der Marke (visuelles Design, Slogans u.ä.) muss diese Aufgabe unterstützen. Tatsächlich wird aber oft umgekehrt vorgegangen. Es wird, gelegentlich überzogen und großspurig, eine Marke formuliert. Und das, was man dann als Kern der Eigenmarke ansieht, wird mehr oder weniger mit dem Inhalt oder mit den wichtigsten Inhalten gleichgesetzt, die kommuniziert werden sollen. Dieser Kurzschluss ist für die Content-Arbeit fatal, und im Augenblick wäre es sicher gelegentlich besser, die Marken- und Marketing-Leute aus der Festlegung der Inhaltsstrategie weitgehend herauszuhalten.
- Die Empfehlung, dass Contentstrategen sich intensiver mit business analytics beschäftigen sollen, habe ich durch einen Tweet aufgeschnappt, an dessen Urheberin ich mich leider nicht mehr erinnere. Rahel Baile und Noz Urbina haben schon in ihrem ersten Buch in diese Richtung argumentiert, und diesr Gesichtspunkt ist auch in unser Masterarbeits-Template eingegangen. Die Implikationen dieser Verbindung werden mir aber jetzt erst bewusst. ↩