Ich bin in diesem Sommer zweimal durch Nachrufe auf Autoren gestoßen, die ich schon längst hätte kennen müssen: auf Bernard Stiegler (Faure & Blin, 2020) und dann auf David Graeber (Alix et al., 2020).
Jetzt habe ich zwei etwas längere Texte Graebers gelesen: Sein kurzes Buch über Anarchismus und Anthropologie (Graeber, 2004) und einen von ihm mitverfassten Aufsatz über die Vor- und Frühgeschichte der Menschheit (Graeber & Wengrow, 2018). Das zentrale Argument ist in beiden Aufsätzen: Es gibt keine zwangsläufige Entwicklung menschlicher Gesellschaften, sondern an jedem Punkt der Geschichte nicht vorgezeichnete Möglichkeiten und Konflikte darüber. Anarchie, konsensuale Ordnung ohne übergreifende Autorität, ist weder ein Ur- noch ein utopischer Endzustand der Geschichte, sondern eine Organisation von sozialen Beziehungen, die auf unterschiedlichen Ebenen verwirklicht wurde und verwirklicht werden kann.
Graeber gilt als Vordenker der Occupy-Bewegung. Er beschreibt die globalisierungskritischen Bewegungen seit den 90er Jahren als Beispiele für funktionierende anarchistische Organisationen. Er hat sich in ihnen engagiert, zuletzt wohl vor allem für die autonome Zone im kurdischen Rojava.
Ich habe etwas zögernd in die Texte hineingelesen, weil mir Graebers Bekenntnis zum Anarchismus zuerst zu plakativ vorkam—obwohl ich selbst schon versucht habe, mich auf einen anarchistischen Ansatz als ein Drittes neben Marktwirtschaft/Kapitalismus und Staatswirtschaft/Sozialismus zu beziehen (Wittenbrink, 2019).
So wie ich ihn jetzt kennengelernt habe, verbinden Graebers Texte anthropologisches (ethnologisches) Wissen, eine umfassende und nicht an Disziplinen gebundene Bildung und den Mut dazu, Denkgewohnheiten in Frage zu stellen, auch ohne die Antworten zu kennen, die sich aus diesen Fragen ergeben. Das macht ihn zu einem Essayisten. Graeber schreibt nicht, um systematisch Erkenntnisse vorzustellen oder sie zu einem System zu verbinden, sondern um bestehende Ordnungen systematisch in Frage zu stellen und Alternativen zu durchdenken.
Der Ausgangspunkt der Anthropologie und der Zweifel daran, dass eine der bestehenden Ordnungen notwendig ist, verbinden Graeber mit Montaigne und einer ganzen Tradition, für die die Begegnung mit anderen als den europäischen Traditionen zu einer radikalen Relativierung des für unbezweifelbar Gehaltenen führen. Dieser Primat des Anderen und der praktischen Ethik erinnern mich an Emmanuel Lévinas, auch wenn sie bei Graeber in ein ganz anderes intellektuelles Netzwerk gehören.
Graeber versucht nicht, auf soziale Identitäten hin zu denken, sondern er versteht das Suchen nach Identitäten, z.B. der ethnischen Identität einer Gesellschaft, als Falle: Die Identität ergibt sich momentan in der Auseinandersetzung mit anderen und anderem, sie besteht nicht als Essenz. Die Forderung nach fixen Identitäten ist das Produkt einer Identitätsmaschine, die keine Alternativen zum Bestehenden zulässt.
Graeber hat Bestseller geschrieben, er ist ein populärer Autor, fast ein anarchistischer Volksschriftsteller—ein Volksschriftsteller, der Professor an der London School of Economics war und an das Collège de France eingeladen wurde. Diese Wirkung erreicht er nicht, weil er akademisches Wissen popularisiert, sondern weil er auch die akademisch-bürokratischen Ordnungen nicht respektiert und sie im Schreiben, in der Kommunikation in Frage stellt. Er vereinfacht nicht, sondern er schreibt einfach, weil er einen Blick von außen findet, weil er sich als Autor äußert und nicht versucht, die anonyme Stimme eines unveränderbaren Wissens zu sein. (Um es versuchsweise semiotisch auszudrücken: Bei Graeber ist die Einfachheit eine Sache der Ansprache der Leserinnen und Leser in der énonciation, nicht der Vereinfachung oder Versimpelung des énoncé.)
In Graebers Charakterisierun des Anarchismus finde ich einiges von dem wieder, was ich bei Extinction Rebellion kennengelernt habe: die Techniken einer konsensualen Entscheidungsfindung, die Bedeutung des zivilen Ungehorsams und der direkten Aktion, die Orientierung an Werten, die sich in der eigenen Praxis verkörpern und nicht für eine bessere Zukunft versprochen werden, und auch die Forderung nach direkter Demokratie jenseits von Mehrheitsentscheidungen, so von Bürger*innenräten oder -versammlungen. Die Querverbindungen von XR zur Occupy-Bewegung waren mir nicht bewusst (vielleicht auch, weil ich die ganze Occupy-Bewegung nur von außen wahrgenommen habe).
Mit anarchistischer Praxis habe ich mich auf einem anderen Gebiet viel intensiver beschäftigt: in der digitalen Kommunikation und vor allem im Web. Das Web, gerade in der Gestalt des IndieWeb, ist eine working anarchy (Benkler, 2013). Von Yochai Benklers Theorie der commons based peer production (Benkler, 2002) führen viele Linien zu Graebers Beschreibungen anarchischer Organisationen. Die politisch-soziale Dimension der digitalen Technologien wird in der Klimabewegung oft zu wenig wahrgenommen—in den Möglichkeiten, die sie bieten, aber auch in ihrer Funktion für die Erhaltung und Intensivierung des fossilen Kapitalismus, wenn Strukturen wie das offene Web von zentralisierten weltweit operierenden Firmen und von Staaten entmachtet und bekämpft werden.
Würde ich von mir selbst sagen, dass ich ein Anarchist bin? Ich bin nicht ganz sicher. Aber ich würde gern von mir sagen können, dass ich dem Anarchismus so nahe komme wie möglich, ohne Anarchist zu sein (Solomon, 2019). Wenn ich Graeber richtig verstehe, ist der Unterschied zwischen beiden Formulierungen nicht sehr relevant. Denn Anarchismus bezeichnet nicht eine theoretische Position, sondern eine Praxis oder Praktiken: soziale Organisation, die nicht auf Zwang und Machtpositionen beruht, wie sie sich vor allem in Verbindung mit dem Eigentum ergeben.
<3 1. So happy to see you writing. 2. Anarchy! 🙂
Mensch lieber Heinz… ich hab gerade erst deinen Blogartikel gelesen. Schade, dass du mich kontextlos angreifst wittenbrink.net/lostandfound/i…
Es geht hier um Kommunikation und wie man Angriffsflaeche bietet, die man vermeiden koennte. Einfach mal drueber nachdenken
Lieber Sascha, danke für die Reaktion! Ich habe schon verstanden, dass das eine Kritik an einer Angriffsfläche war, aber: 1. musste sie in dieser Form erfolgen und damit die Angriffe verstärken, und 2. wenn man schon auf die “ad hominem”-Ebene geht, muss man selbst 1/2
… unangreifbar sein, und das bist du (wegen deiner Funktion) in dieser Sache nicht. Deshalb – da bitte ich um Nachdenken 🙂 – kommt die Kritik auch als Angriff rüber. Mit der Kontextlosigkeit hast du allerdings Recht. 2/2