Ende Oktober ist mein Vater gestorben. Ich habe seinen Tod hier bisher nicht erwähnt. Jetzt fehlt mir die Energie weiterzuschreiben, ohne auf das letzte Jahr zurückzublicken.

Mein Vater ist nicht plötzlich gestorben. Er war schon lange krank und ist immer schwächer geworden. Ich hatte zu Beginn des Jahres gehofft, dass er die kommende Jahreswende und vielleicht sogar seinen 100. Geburtstag noch erlebt, aber ich habe daran nicht wirklich geglaubt. Als meine Schwester mir im Oktober am Telefon sagte, ich müsse kommen, wenn ich mich von ihm verabschieden wolle, haben Ana und ich uns ein Auto geliehen und waren am Abend bei ihm. Er hat noch ein paar Tage gelebt, die Sterbesakramente empfangen und mit uns gesprochen. Er ist, soweit ich es erkennen konnte, mit dem Leben versöhnt und ohne große Schmerzen gegangen, auch wenn er so lange, wie er konnte, am Leben teilnehmen wollte. Seine letzte Zeit ist mir als das Gegenstück der Anfangszeit des Lebens erschienen, wie ich sie bei meinem Enkel erlebe, nicht als plötzliches aus dem Leben Gerissenwerden. Ich habe jetzt etwas weniger Angst davon selbst zu sterben.

Mein Vater ist fast fünf Jahre nach meiner Mutter gestorben. Er hat in diesen Jahren um sie getrauert, hat ihr Grab besucht, so lange er konnte, und sogar versucht, sie ein wenig für seine Kinder und Enkel zu ersetzen. Er hat erlebt, dass fast alle Verwandten und Freunde seiner Generation vor ihm gestorben sind. Er hat in den letzten Jahren einiges über seine Kriegszeit und seine ganz frühe Kindheit in Gelsenkirchen aufgeschrieben und viel davon erzählt, aber nicht rückwärts gewandt gelebt. Er hat sich noch in den letzten Monaten intensiv mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus beschäftigt, einem der wichtigsten Themen für ihn. Bei meinem vorletzten Besuch bei ihm, im September, habe ich noch politische Diskussionen mit ihm geführt—etwas vorsichtiger als früher, aber nicht weniger kontrovers.

Ich habe hier nie über meine Mutter und auch nicht über ihren Tod geschrieben, ein Post, dass ich zu ihrem 90. Geburtstag verfassen wollte, habe ich nicht abgeschlossen. In meinem Blog über sie zu schreiben fällt mir noch schwerer als etwas über meinen Vater zu sagen—vielleicht, weil viele Posts Teil einer Diskussion mit ihm waren. (Ich kann meinen Teil dieser Diskussion jetzt weiter führen, allerdings ohne seinen Part dabei auszuführen. Er war kein einfacher Diskussionsgegner und hat mich oft argumentativ in Verlegenheit gebracht.) Dass ich nicht über meine Mutter geschrieben habe, hängt nicht damit zusammen, dass ich an sie weniger denke oder dass sie für das, was ich hier tue, weniger wichtig war. Gerade in den letzten Jahren meines Vaters ist mir bewusst geworden, in wie vielen Dingen ich ihr nachfolge. Dabei hat sich die Unruhe meiner Mutter, ihr Wunsch, möglichst jede Stunde so zu nutzen, dass es sich lohnt, viel mehr auf mich übertragen als die Gelassenheit meines Vaters—und auch ihre Lust daran, Dinge zu formulieren, sie für andere zusammenzufassen und auch etwas zu missionieren. Wie ich auf meine Eltern eingehe und nicht eingehe, hängt mehr mit der Art von Texten zusammen, die ich hier schreibe, als mit meinen Beziehungen zu ihnen—aber in den Texten, die ich schreibe und die ich lese, setze ich diese Beziehungen fort, auch wenn ich sie nicht nenne.

Solange meine Eltern lebten, ist es mir immer schwer gefallen, mich selbst als älter oder alt wahrzunehmen. Auch meine Eltern waren nicht gerne alte Leute. Mein Vater hat die Zeile … bin ja, wie man sagt, ein Greis immer spöttisch zitiert. Jetzt bin ich selbst bald 65, gehe in Pension, habe einen Enkel, und ich bin auf einmal in meiner Familie in der Rolle der Ältesten. Ich muss noch herausfinden, wie ich diese Rolle annehme und ausfülle. Ich merke, dass mir meine Familie wichtiger wird, auch der neue Teil meiner Familie, mit dem ich durch Ana verbunden bin. Ein wenig ist es so, als hätten meine Eltern, so lange sie am Leben waren, die letzte Verantwortung für die Familie getragen. Jetzt empfinde ich es viel mehr als bisher auch als meine Aufgabe, die Familie zusammenzuhalten. (Auch meine Familie ist eine Patchwork-Familie. Von dem Familienmodell meiner Eltern hat sie sich weit entfernt. Aber mit den Großfamilien, in denen meine Eltern aufgewachsen sind, hat sie mehr Ähnlichkeit als die Kern- und Kleinfamilien, die in der Nachkriegszeit selbstverständlich geworden sind.)

In dem Pandemie-Jahr, das gerade zuendegegangen ist, habe ich mehr Begegnungen mit dem Tod gehabt als in meinem ganzen Leben davor. Der Tod meiner Mutter vor fünf Jahren war, auch wenn sie vorher lange krank war, plötzlich, und ich habe ihre Krankheit nie wahrhaben wollen (anders als meine Schwester, die sich um meine Eltern in den letzten Jahren Tag für Tag und oft Nacht für Nacht gekümmert hat.) Mein erster Schwiegervater—auch er Jahrgang 1922—ist im Juli gestorben, dann unsere Freundin Erika. Viele meiner Freunde haben nahe Verwandte oder Freunde verloren. Auch unser Hund ist an Krebs gestorben. Das Jahr war bleiern, nicht nur durch die Lockdowns, die selbstverständlich geworden sind. Die ökologischen und sozialen Katastrophen, über die ich täglich Berichte gelesen habe, lassen auch für das nächste Jahr nicht viel Besseres erwarten. Ich erlaube mir trotzdem keinen Pessimismus, schon um all‘ dem Widerwärtigen und Lebensfeindlichen nicht noch Recht geben zu müssen.

10 Kommentare zu “Nach einem Jahr aus Blei

  1. Sehr schöner Text. Vielen Dank!
    Das eigene alt werden und der Blick darauf hat sich für mich in diesem Jahr auch so ähnlich verändert. Ich bin gespannt wie‘s damit weitergeht in der „Pension“…..

    • Danke! ich habe vorher nicht viel darüber nachgedacht. Hoffen wir, dass sich der Horizont in diesem Jahr wenigstens etwas öffnet!

  2. Lieber Heinz, danke für die bewundernswerte Offenheit, mit der Du Deiner Trauer Ausdruck gibst. Bewahre Dir das von Deiner Mutter ererbte „Missionarische“. Es herrscht Mangel in dieser bleiernen Zeit an Vision und Mission !
    Liebe Grüße
    Georg

  3. Lieber Heinz, tut mir leid zu hören, dass dein Vater gestorben ist. Ich denke mit einem Schmunzeln an deine Erzählungen von seinen Kommentaren zu unserem Podcast. Ein schöner Umstand, dass es dir offenbar gelungen ist, mit deinen Eltern eine Beziehung zu leben bis zu ihren letzten Tagen.

    Liebe Grüße, Dietmar

    • Danke, Dietmar! Die Beziehung zu meinen Eltern ist in den letzten Jahren intensiver geworden, auch vielfältiger. Sie ist auch nicht zuende, so merkwürdig das klingt. Jedenfalls: Wo immer mein Vater jetzt ist—er würde sich über weitere Podcast-Folgen freuen 🙂

  4. Lieber Heinz,
    vielen Dank für diesen wunderbaren Text und das Teilen deiner Gedanken. Auch ich habe schon einige meiner Familienmitglieder im Laufe der letzten Jahre verloren und kann vieles, von dem du schreibst, sehr gut nach fühlen. Auch das Thema mit dem Alter, auch wenn bei mir seit Jänner „erst“ der 5-er vorne steht.

    Es verändert sich so einiges im Laufe der Zeit. Mir ist erst im vergangenen Jahr so richtig bewusst geworden, dass ich bereits zu den „Alten“ im Team gehöre und sich damit auch meine Rolle im Arbeitsleben verändert hat. Nichtsdestotrotz oder gerade deshalb macht mir der Austausch mit meinen jungen Kolleg*innen sehr viel Spaß. Und ich kann es kaum erwarten, diesen Austausch endlich wieder persönlich zu führen…

    Alles Liebe und viele positive Gedanken für die Zukunft,
    Sandra

    • Liebe Sandra, danke für dein Mitgefühl und deine Worte! Es ist eigenartig, nicht nur älter zu werden, sondern auch zu einer anderen Generation zu gehören. Mich haben die Besuche bei meinem Vater, bei denen ich auch immer noch eine kindliche Rolle gespielt habe, zugleich weit zurück in meinem Leben projiziert. So richtig bringe ich diese Perspektiven noch nicht zusammen. Bis bald einmal – irgendwann wird ja der Lockdown aufhören!

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