Wired hat gestern getitelt: The Web Is Dead. Dave Winer und Jason Kottke antworteten ironisch. Tim Bray stellte lakonisch fest:
Glanced at Wired’s „Web is Dead“ piece. Big graph at top of page 1 is violently misleading. Not worth reading. http://is.gd/elIQx
In Mitteleuropa, wo Google Streetview zum nationalen Thema werden kann, und wo Verleger ein Leistungsschutzrecht fordern, um überholte Geschäftsmodelle zu sichern, wird man die Geschichte ernster nehmen als in den USA. (Und man kann sie verwenden, um Studenten—und vielen Medienleuten—den Unterschied zwischen dem Web und dem Internet zu erklären.) Deshalb hier einige Richtigstellungen und Gegenargumente.
Facebook und Apple sind Webfirmen
Anderson und Wolff konstruieren einen Gegensatz zwischen Walled Gardens wie Facebook oder Apples Appstore und dem Web. Technisch ist das nicht richtig. Facebook ist eine Web-Plattform, und mobile Applikationen werden (wenigstens oft) mit Webtechnologien realisiert. Sie stehen höchstens im Widerspruch zum Geist der Offenheit, den Wired in diesem Artikel eigentlich meint, wenn es vom Web spricht. Aber diesem Geist entsprechen z.B. die zensierten großen chinesischen Plattformen wie Baidu auch nicht; trotzdem gehören sie zum Web. Übrigens unterstützt Apple auch die Entwicklung offener Technologien wie HTML5, und Facebook verdankt seinen Erfolg der Vernetzung mit anderen Webangeboten, etwa durch seinen Like-Button.
Wired verkennt das Web als Hypermedium
Prinzip des Web ist, dass Informationen, Dienste und Personen frei miteinander verbunden werden können. Das Web ist ein Hypermedium, seine Synapsen sind die Links. Sie spielen in dem Wired-Artikel keine Rolle, obwohl im Web gerade die Angebote erfolgreich sind, die auf Links basieren. Welchen Grund gibt es anzunehmen, dass die Benutzer von Mobiltelefonen auf offene Webplattformen wie Youtube oder auf Empfehlungsservices, die mit anderen Diensten verknüpft sind, in Zukunft verzichten möchten?
Der Artikel versteht vergangene ökonomische Modelle als Naturtatsachen
Merkwürdig ist, dass ausgerechnet Chris Anderson, der Erfinder des Long Tail, nicht sehen will, dass im Web bzw. der Informationsökonomie andere Regeln gelten als in der Industriegesellschaft. So hat Yochai Benkler gezeigt, dass in der Informationsgesellschaft die commons based peer production dem Markt und der zentralisierten Produktion überlegen sein kann, wenn kulturelle Güter erzeugt werden—so wie die Wikipedia alle kommerziellen Nachschlagewerke in den Schatten stellt. Es spricht wenig dafür, dass im Web der Kampf um die Kontrolle, von dem Anderson spricht, so verläuft und ausgeht wie oft in der Industriegesellschaft.
Monopole waren im Web immer ohne Chance
Anderson behauptet, dass auf jedem Gebiet der Wirtschaft Monopole irgendwann das freie Spiel der kleineren Marktteilnehmer beenden. Unabhängig davon, ob diese Regel außerhalb des Webs stimmt (wäre sie richtig, hätten sich demokratische, dezentrale und marktwirtschaftliche Gesellschaften kaum immer wieder gegen Diktaturen und Planwirtschaften durchgesetzt)—im Web hatten Monopole bisher keine Chance. AOL und Microsoft haben das erfahren, Google lernt es gerade durch den Erfolg von Facebook. Solange das Web offen bleibt, ist es ein ideales Biotop für die schöpferische Zerstörung.
Wired-PR oder Anderson-PR?
Es gibt viele weitere Argumente gegen den Wired-Artikel. Alexis Madrigal zeigt in einem gründlichen Artikel im Atlantic, dass Anderson und Wolff von einem wissenschaftlich extrem fragwürdigen Technikbegriff ausgehen, so als würden sich Technik und Gesellschaft quasi natürlich entwickeln. Und bei Boing Boing demonstrierte Rob Beschizza (Is the web really dead?), wie eine Grafik aussehen muss, die das tatsächliche Wachstum des Webs abbildet, nämlich so (roter Bereich unten = Web):
Copyright: BoinBoing, URL: http://www.wired.com/magazine/wp-content/images/18-09/ff_webrip_chart2.jpg
Wired dagegen bildet die Entwicklung des Web Traffic im Verhältnis zum Internet so ab:
Copyright: Wired, URL: http://www.wired.com/magazine/wp-content/images/18-09/ff_webrip_chart2.jpg
Man muss sich fragen, ob dieser Artikel nicht vor allem dazu dienen soll, Wired endlich wieder in die Diskussion zu bringen. Andersons früherer Wired-Kollege Madrigal vermutet, dass er nicht nur der PR des Condé-Nast-Blattes dient, sondern auch der seines Chefredakteurs Anderson selbst. Er sei bei Wired für Print und Apps zuständig, nicht aber für wired.com.