Ich habe neulich auf Twitter (zu) emotional auf ein Interview mit Ralf Lankau reagiert, das der Standard publiziert hat. Christoph Chorherr hat darauf getwittert:
@heinz da hätte ich mir doch eine etwas sachbezogenere Kritik gewünscht
— christoph chorherr (@chorherr) 27. Mai 2016
Ich habe versprochen, eine Argumentation nachzureichen. Dass ich dabei nicht ganz auf Polemik verzichten kann, hängt wohl damit zusammen, dass für mich Bildung mit ganz anderen Werten verbunden ist, als ich sie in diesem Interview mit Lankau und anderen seiner Äußerungen feststelle. Für mich hat Bildung mit Mut, mit Experimentieren und mit Offenheit zu tun—und auch damit, in der bestehenden Gesellschaft erfolgreich und auch nützlich zu leben. Ich ignoriere nicht, dass Bildung und Lernen mit Zwang verbunden sind, aber ich möchte nicht willkürlich eine idealisierte Vorstellung von Bildung und Wissen gegen eine scheinbar böse und verkommene Realität durchsetzen.
Bildung ohne Mut?
Ich beginne damit zu sagen, was mich an diesem Interview aufgebracht hat. Es sind verschiedene Punkte. Am meisten geärgert hat mich die Vorstellung, man könne an Schulen zwar digitale Medien verwenden, aber nur in geschlossenen Systemen und abgetrennt vom Rest des Netzes.
Natürlich weiß ich, dass wir sehr stark mit digitalen Geräten und Netzwerken arbeiten, dafür müssen wir in den Schulen aber eigene Strukturen aufbauen, deutsche, europäische, aber immer im Sinne von Intranet, also geschlossene Netze. Da kann ich dann mit meiner Klasse oder auch der Nachbarklasse kommunizieren, oder man verbindet zwei Schulen miteinander oder baut eigene Bildungsserver auf, aber immer geschlossene Systeme.
Das würde bedeuten, die Kinder in ein digitales Gefängnis zu sperren. Dabei würde digitale Technologie, wie sie jedem von uns ständig im Alltag begegnet, durch eine von fundamentalistischen Pädagogen erfundene Wunschtechnologie ersetzt. Wenn man Kindern den Zugang zum Netz verbietet, macht man es aber unmöglich, sie zur Partizipation am Netz zu erziehen.
Geärgert hat mich außerdem, dass Lankau sich nicht nur mit emotionalen Argumenten gegen die Verwendung von digitaler Technik im Unterricht—oder wenigstens gegen die Verwendung dessen, was heute digitale Technik ist—wendet, sondern dass er gleich jede Art von Technik bis hin zum Orbis pictus von Comenius im Bildungswesen für entweder überflüssig oder gefährlich hält.
Es fängt an bei Comenius mit den Bilderbüchern, wo auch schon drinsteht, dass man dann auf den Lehrer verzichten kann. Denn wenn alle Kinder die gleichen Bilderbücher sehen, dann müssen sie auch die gleichen Antworten geben können.
Konsequenterweise trennt er auch zwischen Bildung und Medialisierung.
Bildung lässt sich natürlich nicht digitalisieren, weil sie immer an das Subjekt gebunden ist, wie im übrigen auch Wissen – oder es ist medialisiert.
In der Rousseauschen Tradition des Zurück zur Natur! fordert er damit meinem Verständnis nach den Verzicht auf Bildung.
Geärgert hat mich drittens die Entgegensetzung der bösen amerikanischen Konzerne, die an die Daten der unschuldigen europäischen Kinder heran wollen, und der guten – wenn auch noch nicht wirklichen – europäischen oder sogar deutschen Regelungen für das Internet.
Google ist außen vor. Was Google-Manager Eric Schmidt ja ganz grausam findet. Er spricht von Balkanisierung des Web, wenn wir anfangen, eigene Strukturen aufzubauen. Aber nur so geht es, das heißt Intranet, verschlüsselte Datenübertragung, und dann legen wir fest, wer auf die Daten zugreifen, wer welche Dienste nutzen kann.
Diese nationalistische Perspektive ist dem nichtterritorialen Medium Internet nicht angemessen und sie verkennt die zivilisatorische Leistung, die das Netz und insbesondere das Web bedeutet und zu der auch Facebook und Google beitragen. Lankau fordert eine Abschottung von digitaler Technologie und digitalem Fortschritt, die, ließe sie sich durchsetzen, sehr nah an der nichtdarwinistischen Genetik in der Stalinzeit liegt.
Lankau argumentiert mit der Haltung von jemand, der genau weiß, was gut und böse ist, und der den provisorischen, offenen und unbestimmten Charakter technischer Entwicklungen und Innovationen verkennt.
Ab dem Moment, wo wir mit den Schulen ins Netz gehen, gibt es keinerlei Datenschutz oder Datenschutzbestimmungen. Egal, ob sie Facebook-Gruppen bilden oder was immer.
Diese Dämonisierung des offenen Webs möchte er zur pädagogischen Richtschnur machen, und die schutzbefohlenen Kinder wenigstens in der Grundschule in eine Art nichtdigitales Idyll einsperren, um sie danach mit ausgewählten Bruchstücken digitaler Technologie in einem Schutzraum vertraut und gegen das böse echte Internet immun zu machen. Seine Argumentationen liefern den vielen Lehrern und Bürokraten eine Rechtfertigung, die Schüler in Ländern wie Österreich und Deutschland weitgehend fern von digitaler Technologie halten.
Medien und Bildung gehören zusammen
Lankau unterscheidet Wissen und Bildung als Eigenschaften oder Leistungen von Subjekten von der von ihm so genannten Medialisierung, der er nicht nur Computer sondern auch Bücher zuordnet. Lernen und Lehren vollziehen sich für ihn als menschliche Interaktion, der gegenüber Medien nur etwas Äußerliches darstellen. Ich halte diese Vorstellung schon anthropologisch für falsch. Menschliche Gesellschaften unterscheiden sich von vielen tierischen dadurch, dass Menschen mit Objekten umgehen, dass, zugespitzt formuliert, Gesellschaften aus Menschen und Objekten bestehen:
… bodies adapting to social life have, themselves, two possibilities: build the society using only social skills (non-human primates) or utilize additional material resources and symbols, as necessary, to define the social bond (human societies). In the human step different types of societies are created depending upon the extent of new resources that are used.[The Meanings of Social: From Baboons to Humans]
Bildung im Sinne von Sozialisierung, von Einführung in die Gesellschaft und Erschließung der Möglichkeiten, die sie für den Einzelnen bedeutet, ist immer auch Einführung in den Umgang mit Objekten und mit Technologien. In einem ganz besonderen Sinne gilt das für die Objekte und die Technologien, an die Wissen gebunden ist: das Rechnen, die Schrift, den Buchdruck und die mit ihm verbunden Techniken, und heute die digitalen Techniken. In der Antike ist es den Platonikern nicht gelungen, Bildung und die Verwendung der Schrift voneinander zu lösen—falls sie es tatsächlich vorgehabt haben sollten. Auch die Verächter des Buchdrucks wie der Abt Trithemius haben nicht verhindern können, dass sich in der Neuzeit ein Bildungswesen entwickelte, in dem Bildung immer eng mit der Kompetenz zum Umgang mit Büchern und Gedruckten verbunden ist. Zu dieser medialisierten Bildungswelt gehört auch die Idee des Orbis Pictus des von Lankau ironisierten Comenius. Lankau kritisiert, wenn auch nicht ganz explizit, dass Bildung schon durch die Verwendung von Büchern industrialisiert wird, und tatsächlich hängen die Industrialisierung und der Versuch, alle Kinder in einer Gesellschaft wenigstens teilweise gleich zu erziehen, miteinander zusammen. Aber die Vorstellung, man könne Bildung von den Objekten, Technologien, und Medien lösen, macht Bildung als eine soziale Institution unmöglich. Lankau wirft mit Formulierungen wie der vom Joch der Digitalisierung den Vertretern der Digitalisierung der Bildung vor, dass sie Druck ausüben und verkennt, dass die Befürworter der Digialisierung die Anpassung an einen ganz realen gesellschaftlichen Druck durch wissensbasierte Technologien fordern.
Angst vor dem Digitalen?
Wer heute mit Kindern zu tun hat, auch schon mit Kindern im Grundschulalter, weiß, dass sie alltäglich gerne mit digitalen Technologien umgehen. Zehnjährige sind dazu in der Lage 3-D Animation zu entwickeln und sie auf YouTube zu publizieren. Die Medienkompetenz vieler Schüler geht, wie immer wieder beobachtet worden ist, meist weit über die ihrer Lehrer hinaus. Andererseits kann ich selbst als Lehrender bestätigen, dass die Einsicht in digitale Technologien und ein wirklich kreativer und auch kritischer Umgang mit ihnen zumindest vielen österreichischen Schulabgängerinnen und Schulabgängern noch ausgesprochen schwer fallen. Schüler lernen bisher eben nicht, mit digitalen Medien gebildet umzugehen. Wer Angst vor dem offenen Netz predigt, macht es jungen Leuten noch schwerer, die Möglichkeiten des Netzes zu entdecken und über das bereits Vorhandene hinauszugehen. Wer Horrorszenarien wie das von einem komplett von Maschinen zugerichteten isolierten Zögling ausmalt, die mit dem auf Interaktion angelegten sozialen Netz, dass sich seit 20 Jahren entwickelt hat, nicht zu tun haben, hängt die digitale Entwicklung hierzulande noch weiter von dem ab, was international passiert.
Viele Kritiker malen ein Zerrbild der Digitalisierung, reduzieren sie auf ein dystopisches Horrorszenario und ignorieren die sozialen Eigenschaften des Netzes vollständig. Ignoriert wird auch, dass das Netz zu einem großen Teil darauf basiert, dass einzelne sich in ihm unabhängig von Konzernen und Institutionen frei vernetzen können. Die Subjekte verlieren durch das Netz nicht Möglichkeiten, sondern sie gewinnen welche, auch wenn die Freiheit im Netz gegen Staaten, Monopole und Datensilos verteidigt werden muss.
Es gibt viele Versuche, genauer zu bestimmen, wie digitale Bildung aussieht, welche Kompetenzen entwickelt werden müssen, und wie diese Kompetenzen entwickelt werden sollen. Die Verächter der digitalen Bildung verwerfen diese Diskussionen pauschal und reden damit letztlich der Unbildung das Wort. Wer keine eigene praktische Erfahrung mit digitalen Technologien und dem Internet hat, und zwar mit den echten, unvollkommenen und auch riskanten digitalen Technologien, der kann weder die Fähigkeit erwerben, diese Technologien weiter zu entwickeln, noch die, tatsächlich kritisch und differenziert mit ihnen umzugehen.
Die meisten Verächter der digitalen Bildung vermischen unterschiedliche Aspekte der Digitalisierung in Bildungseinrichtungen. Digitalisierung bedeutet die Verwendung von digitalen Lernmaterialien. Digitalisierung bedeutet das Erwerben von Kompetenzen zum Leben in einer digitalisierten Welt und Digitalisierung bedeutet auch die Steuerung von Lernprozessen mithilfe digitaler Technologien.
Wissen, Wissenschaft und Kultur sind immer mehr an digitale Medien und damit auch an digitale Formate und Kommunikationsformen gebunden. Digitale Technologien verändern und entwickeln sich schnell, und digitale Bildung oder Literacy ist die Fähigkeit, an diesen Veränderungen aktiv teilzunehmen, ein Webmaker zu sein, und nicht nur ein passiver Konsument. Digitales Lernen bedeutet aber auch eine Individualisierung des Lernens und seine Unterstützung durch immer intelligentere Technologien, zu denen die Beobachtung und Auswertung von Lernprozessen gehören. Diese unterschiedlichen Bedeutungen von Digitalisierung hängen miteinander zusammen, aber sie sind nicht miteinander identisch. Allen diesen Veränderungen, den zu ihnen gehörenden Forschungen und Diskussionen gegenüber die Haltung des Eh schon wissen anzunehmen und zu fordern, die Schulen vom Netz zu nehmen, ist so weitsichtig, wie es Trithemius war, der das Anfertigen von Handschriften verteidigte, weil auf Papier gedruckte Bücher so kurzlebig seien.