Nur Nationen mit inklusiven politischen und wirtschaftlichen Institutionen leben dauerhaft im Wohlstand. Aus dieser These von Daron Acemoğlu und James A. Robinson lässt sich für die Netzpolitik viel lernen. Sie liefert eine pragmatische und utilitaristische Begründung dafür, ein pluralistisches Netz zu fordern und dort gegen politische und wirtschaftliche Oligarchien zu kämpfen.
In den letzten Monaten habe ich Warum Nationen scheitern von Daron Acemoğlu und James A. Robinson gelesen (Website zum Buch hier). Es enthält eine Theorie der Armut beziehungsweise des Reichtums von Ländern und sehr viele historische Beispiele, um diese Theorie zu begründen. Das Modell, das Acemoğlu und Robinson entwickeln, ist einfach. Sie unterscheiden zwischen extraktiven und inklusiven Institutionen, und bei den Institutionen zwischen wirtschaftlichen und politischen. Extraktive Institutionen haben das Ziel, dass sich ein Teil einer Gesellschaft—meist ein kleiner Teil—den erwirtschaften Reichtum aneignet, also die übrigen Mitglieder der Gesellschaft ausbeutet. Inklusive Institutionen dienen dazu, alle oder möglichst viele Mitglieder der Gesellschaft zu beteiligen beziehungsweise ihnen die Möglichkeit zu geben, selbst wirtschaftlich aktiv zu werden und von den Ergebnissen ihrer Arbeit profitieren zu können. Die wirtschaftlichen Institutionen eines Landes setzen die politischen Institutionen voraus. Extraktive politische Institutionen stellen die Herrschaft der Gruppe sicher, die die anderen ausnutzt. Ohne extraktive politische Institutionen können extraktive wirtschaftliche Institutionen nicht funktionieren, weil die Benachteiligten sonst die Möglichkeit hätten, gegen die dominierende Gruppe vorzugehen. Andererseits sind inklusive politische Institutionen die Voraussetzung dafür, dass inklusive wirtschaftliche Institutionen funktionieren. Nur sie geben so viel Rechtssicherheit, dass viele Mitglieder einer Gesellschaft wirtschaftlich aktiv werden und ihr Vermögen, ihre Arbeitskraft oder anderer Ressourcen bestmöglich investieren. Wenn diese Sicherheit nicht besteht, also Willkür herrscht, sinkt die Motivation, sich wirtschaftlich zu engagieren.
Ohne Inklusive Institutionen keine schöpferische Zerstörung
Wirtschaftswachstum und damit zunehmenden Reichtum einer Gesellschaft kann es sowohl unter extraktiven wie unter inklusiven Bedingungen geben. Aber die Möglichkeiten des Wachstums sind unter extraktiven Bedingungen beschränkt. Einen wichtigen Grund dafür erklären Acemoğlu und Robinson mithilfe von Schumpeters Konzept der schöpferischen Zerstörung. Wirtschaftswachstum führt immer dazu, dass sich neue Ideen, Produkte und Unternehmen gegenüber den alten durchsetzen. Wirtschaftswachstum ist also potenziell disruptiv und gefährdet damit bestehende Strukturen, auch Machtstrukturen. Unter extraktiven Verhältnissen wird Wirtschaftswachstum beziehungsweise die Freiheit der Wirtschaftstreibenden deshalb zwangsläufig begrenzt. Wegen dieser Innovationsbremse bleiben extraktive Gesellschaften wirtschaftlich hinter inklusiven Gesellschaften zurück. Ein weiterer, bereits erwähnter Grund besteht darin, dass sich in ihnen viel weniger Mitglieder der Gesellschaft an der Wirtschaft beteiligen. Ein dritter Grund dafür, dass extraktive Gesellschaften inklusiven Gesellschaften letztlich unterlegen sind, besteht darin, dass sie politisch instabil sind‐auch wenn das paradox klingt. Je mehr die Macht konzentriert ist und Zugang zu den wirtschaftlichen Ressourcen einer Gesellschaft bietet, je mehr Gewalt dazu erforderlich ist, Macht zu erwerben oder zu erhalten, desto eher konkurrieren verschiedene Gruppen innerhalb der herrschenden Clique oder verschiedene Cliquen um die Macht und sorgen damit für politische Instabilität. Die Verhältnisse können sich, wie man es von vielen Diktaturen kennt, durch politische Umstürzen sehr schnell ändern.
Historisch und auch im Vergleich der gegenwärtigen Gesellschaften sind inklusive Gesellschaften in der Minderheit. Nur unter ganz bestimmten Bedingungen, im allgemeinen wohl im Verlauf großer historischer Umbrüche, können inklusive Gesellschaften entstehen, weil die herrschenden Gruppen so geschwächt sind, dass sie zu Koalitionen mit anderen Gruppen gezwungen sind und weil diese anderen Gruppen Institutionen schaffen können, die die Macht einzelner Gruppen tatsächlich begrenzen. Inklusive Gesellschaften sind also im Gegensatz zu exklusiven Gesellschaften pluralistisch.
Als wichtigstes Beispiel für eine solche Entwicklung analysieren Acemoğlu und Robinson die Geschichte der englischen Wirtschaft und Gesellschaft seit dem späten Mittelalter, in dem die große Pest um 1350 die Herrschenden so sehr schwächte, dass auch andere soziale Gruppen dauerhaft an der Macht beteiligt wurden und wirtschaftlich aktiv werden konnten. In der Folge gelang es dann, die Macht der Krone beziehungsweise der mit ihr verbundenen privilegierten Gruppen immer weiter einzuschränken, am folgenreichsten in der Glorious Revolution 1688. Rechtssicherheit und wirtschaftliche Freiheit setzten ein enormes Potenzial frei, durch das England über Jahrhunderte zur industriell fortgeschrittensten Gesellschaft der Welt wurde. Eine ganz ähnliche Entwicklung kann man in Nordamerika beobachten, wo es zu Beginn der Kolonisierung nicht gelang, extraktive Institutionen zu etablieren und die Wirtschaft ebenfalls von unterschiedlichen Gruppen beziehungsweise weitgehend frei agierenden Einzelnen vorangetrieben wurde.
Inklusive Regelungen heben die Potenziale des Netzes
Acemoğlu und Robinson beschäftigen sich nicht mit dem Internet. Es liegt aber nahe, ihr Modell auch auf das Netz zu übertragen. Dabei darf man das Netz nicht als eine eigene technische Realität neben der übrigen sozialen und wirtschaftlichen Wirklichkeit missverstehen, sondern muss es als einen Teilbereich begreifen, der zunehmend wichtiger für die Entwicklung der gesamten Wirtschaft geworden ist. Viele der Forderungen, die von der sogenannten Netzgemeinde beziehungsweise von Gruppen wie der Digitalen Gesellschaft in Deutschland oder dem AKVorrat in Österreich erhoben werden, lassen sich mit Hilfe des Modells von Acemoğlu und Robinson sehr gut begründen. Im Kern zielen diese Forderungen auf inklusive Regelungen für das Netz beziehungsweise auf die Verteidigung inklusiver, pluralistischer Verhältnisse im Netz gegen Versuche von Gruppen, Firmen und staatlichen Einrichtungen, extraktiv vom Netz bzw. von Teilbereichen des Netzes zu profitieren. Es geht darum, dass möglichst viele Menschen an der weiteren Entwicklung im Netz teilnehmen, dass Innovationen gefördert werden und schöpferische Zerstörung möglich bleibt. Auf das Netz übertragen bedeutet die Argumentation von Acemoğlu und Robinson, dass inklusive Verhältnisse im Umgang mit dem Internet einen weitaus größeren gesellschaftlichen Reichtum zur Folge haben werden als der Schutz privilegierter, extraktiv agierender Gruppen vor Konkurrenz und Innovationen. Anders formuliert: Auch im Netz kommt es darauf an, extraktive Verhältnisse durch inklusive Verhältnisse zu ersetzen beziehungsweise, da wo inklusive Verhältnisse gegeben sind, eine Entwicklung in der Richtung extraktiver Verhältnisse zu verhindern.
Extraktive Tendenzen im Netz 1: Die Gegner der Netzneutralität
Unterschiedliche, aber oft miteinander verbundene Gruppen—Unternehmen, Lobbies und staatliche Einrichtungen—stabilisieren extraktive Verhältnisse im Netz oder treiben sie voran. Ein ganz deutliches Beispiel dafür bietet die Thematik der Netzneutralität. Die Telekoms versuchen hier, leider zum Teil auch erfolgreich, extraktive Verhältnisse zu etablieren, indem sie einzelne Akteure privilegieren. Wenn im Netz nicht mehr jeder den gleichen Zugriff auf die Infrastruktur hat, sondern diejenigen, die bereits Kapital besitzen, dauerhaft privilegiert werden, werden viele Akteure ausgeschaltet und auf Dauer wird Innovation behindert. Davon profitiert außer den Telekoms selbst und wenigen finanzkräftigen etablierten Firmen niemand.
Extraktive Tendenzen im Netz 2: Monopole statt Standards
Um extraktive Verhältnisse handelt es sich auch, wenn einzelne Firmen aufgrund einer Monopol- oder Quasi-Monopolstellung alle anderen Marktteilnehmer dazu zwingen können, ihre Dienstleistungen zu nutzen. Lange hat Microsoft eine solche Rolle gespielt. Heute sind Google und Facebook nur zwei Beispiele für Firmen, die ihren Reichtum vor allem einer Monopolstellung verdanken. Inklusive Institutionen hängen in diesen Märkten von Standards ab, die es ermöglichen, dass sich jeder in der gleichen Weise am Markt beteiligen kann. Die Politik von Microsoft in Bezug auf Browser und Webstandards zeigt übrigens sehr gut, wie ein Monopol schöpferische Zerstörung verhindert. Microsoft hat seinen Browser einfach nicht mehr eingreifend verändert und damit die Entwicklung der Browser insgesamt über Jahre hinweg blockiert.
Extraktive Tendenzen im Netz 3: Datenhortung
Um extraktive Verhältnisse handelt es sich auch, wenn Konzerne sich Daten aneignen und ohne Kontrolle und intransparent mit diesen Daten weiterarbeiten können. Dadurch wird ein extremes Maß an Ungleichheit geschaffen, das die Aktivitäten kleinerer Akteure beziehungsweise neuer Akteure behindert.
Von extraktiven Verhältnissen in Bezug auf Daten muss man natürlich nicht nur bei großen Konzernen sprechen, die sich Daten aneignen, sondern auch in Bezug auf staatliche Einrichtungen wie Geheimdienste, die fast unkontrolliert Daten sammeln. Dabei arbeiten staatliche Institutionen und Konzerne, wie bekannt, häufig zusammen. Allen anderen Teilnehmern am Markt beziehungsweise der Gesellschaft wird die Möglichkeit, mit diesen Daten zu arbeiten, genommen oder nur sehr selektiv gewährt. Die Kontrolle enormer Menge an Daten durch ganz wenige führt auch hier zu einem von extraktiven Gesellschaften bekannten Phänomen: Mit kriminellen beziehungsweise halbkriminellen, in jedem Fall aber intransparenten Methoden wird um Daten gekämpft. Geheimdienste, Wirtschaftskriminelle, aber auch konspirativ arbeitende politische Gruppen sorgen für eine Instabilität, die an die Instabilität in Diktaturen erinnert, in denen es zu Fraktionskämpfen innerhalb der herrschenden Gruppen kommt. Die Hauptgefahr der globalen Zerstörung der Privatsphäre, an der die Geheimdienste arbeiten, liegt vielleicht gar nicht darin, dass diese Einrichtungen die Daten, die sie sammeln, selbst missbrauchen—obwohl diese Gefahr sicher besteht. Ein mindestens ebenso großes Risiko besteht darin, dass sich andere in den Besitz dieser Daten setzen und diese Daten kriminell nutzen. Aus diesem Grund ist der möglicherweise gut gemeinte Versuch europäischer Innenminister, verschlüsselte Kommunikation unmöglich zu machen, so fatal. Sollte er gelingen, würde er es Kriminellen und insbesondere auch den Terroristen selbst ermöglichen, Zugang zu jeder Form der Kommunikation zu finden.
Extraktive Tendenzen im Netz 4: Die Urheberrechtsmafia
Inklusive Verhältnisse müssen auch gegen eine andere Form des extraktiven Umgangs mit dem Netz durchgesetzt werden—den Versuch, Entwicklungen im Netz zu unterdrücken beziehungsweise einzugrenzen, um Mächtigen aus der analogen Welt ihre Privilegien zu erhalten. Den Versuch von Politikern, die Netzkommunikation zu kontrollieren, habe ich bereits in Bezug auf die Datensammlung erwähnt. Ein anderer Versuch, die schöpferische Zerstörung im Netz zu verhindern, liegt bei der Urheberrechtsmafia vor, also bei allen, die in der analogen Welt erworbene Rechte in der digitalen Welt durchsetzen wollen, auch wenn damit die Potenziale des Netzes trockengelegt werden. Auch hier wird extraktiv vorgegangen. Man versucht lediglich Ressourcen bzw. Reichtum, der dort entsteht, auf die bereits vorhandenen eigenen Mühlen umzudenken.
Das eherne Gesetz der Oligarchie: Auch im Netzt wird Macht nicht freiwillig abgegeben
Der Soziologe Robert Michels hat vom ehernen Gesetz der Oligarchie gesprochen. Diese Formulierungen wird von Acemoğlu und Robinson immer wieder zitiert. Gemeint ist, dass einmal bestehende extraktive Institutionen weiterleben, selbst wenn die Personen der Machthaber ausgetauscht werden. Wer im Besitz von unbegrenzter oder nahezu unbegrenzte Macht ist, gibt diese Macht in aller Regel nicht ab. Man muss auch im Netz davon ausgehen, dass eine Firma oder Gruppe, die die ausschließliche Kontrolle über Ressourcen oder Daten hat, sich diese Kontrolle normalerweise nicht freiwillig abnehmen lässt. Das Beispiele Microsoft habe ich schon erwähnt. Technologiekonzerne werden von Innovatoren zu Bewahrern, wenn Innovationen ihre Einkommensströme bedrohen. Es spricht nichts dafür daran zu zweifeln, dass Telekoms oder Geheimdienste, die eine enorme Macht und monopolartige Charakter besitzen, alles dafür tun, diese Macht auch noch auszubauen beziehungsweise zu erhalten. Inklusive Institutionen bilden immer eine Ausnahme, auch wenn sie erfolgreich sind, und es ist extrem schwierig sie durchzusetzen, wo bereits extraktive Institutionen bestehen. Umso wichtiger ist es, sie dazu erhalten, wo sie bereits vorhanden sind. Im Bezug auf das Netz ist das, wie ich finde, insbesondere in Bezug auf das Web und seine Standards der Fall. Aber auch viele andere Internet-Technologien und -Institutionen verdanken sich dem pluralistischen Agieren verschiedener wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und staatlicher Institutionen und einzelner Gruppen, das die Voraussetzung für inklusive Institutionen ist. Es ist wichtig, solche Verhältnisse abzusichern.
Wirtschaftliche Gründe für ein inklusives Netz
Das Buch zeigt im Bezug auf die Wirtschaft, dass inklusive Gesellschaften beziehungsweise inklusive politische und darauf basierende wirtschaftliche Institutionen die Voraussetzung für wirtschaftlichen Reichtum und letztlich für den Reichtum aller oder vieler Gesellschaftsmitglieder sind. Sich im Netz für inklusive Institutionen einzusetzen, ist deshalb nicht naiver Idealismus oder der Versuch, moralische Prinzipien gegen wirtschaftlichen Fakten zu behaupten. Es geht vielmehr darum, dass
- möglichst viele Teilnehmer sich an der weiteren Entwicklung des Netzes beteiligen und
- schöpferische Zerstörung möglich bleibt, die weitere Entwicklung des Netzes also nicht begrenzt wird um bestehende Machtgruppen abzusichern.
Ein inklusives Netz ist für die große Mehrheit der Gesellschaft vor allem wirtschaftlich von Vorteil.
Ohne Pluralismus der Akteure keine inklusiven Institutionen
Die Entwicklung der englischen und der amerikanischen Wirtschaft zeigt übrigens auch, das inklusive, pluralistische Institutionen nicht immer demokratische Institutionen in unserem Verständnis sind. Das allgemeine Wahlrecht wurde in England erst sehr viel später durchgesetzt als inklusive wirtschaftliche Einrichtungen und eine weitgehende Rechtsstaatlichkeit. In ähnlicher Weise wird es auch beim Netz oder im Netz vor allem um Pluralismus gehen, nicht zu sehr um demokratische Kontrolle, die die dort jedenfalls im Moment nur selten möglich ist. Es kommt auf Koalitionen unterschiedlicher Akteure an, die die Vorherrschaft einzelner, sei es wirtschaftlicher, sei es staatlicher Akteure beseitigt oder unmöglich macht. Es kommt vor alle darauf an, jedem einzelnen die Handlungsmöglichkeiten, darunter auch die Datensouveränität, zu sichern, die er braucht, um selbständig am Netz und seine Entwicklung teilnehmen zu können.
Die verschiedenen Forderungen, die ich hier genannt habe, sind nicht neu. Mir geht es hier nicht um die Forderungen selbst, sondern um ihre Begründung, beziehungsweise um eine möglichst saubere wirtschaftliche Begründung dafür. Für eine solche Begründung liefert das Buch wichtige Argumente. Es zeigt aber auch, wie schwierig es ist, inklusive Institutionen durchzusetzen und vor allem dauerhaft zu erhalten. Wenn wir uns heute nicht für dauerhafte inklusive Institutionen im Netz einsetzen, machen wir es sehr schwer und vielleicht sogar unmöglich, sie in der Zukunft wieder zu erkämpfen.