Deutschlandfunk-Bericht zur ICWSM-2019

Ich finde den Bericht von Mariann Unterluggauer zur ICWSM-2019 aus mehreren Gründen interessant: wegen der vielen Aussagen zu Methodenproblemem in der Internetforschung, wegen Bemerkungen zur Veränderung der Schreibkompetenz durch Social Media-Aktivitäten und wegen der kritischen Sicht auf die Validität der von den großen Webkonzernen gesammelten Daten. Die Konferenzbeiträge wurden hier schon veröffentlicht (!).

Marianne Unterluggauer hebt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hervor, die ich mir merken möchte: Jürgen Pfeffer, Kristina Lerman (die ich neulich verpasst habe, als sie in Graz war, offenbar grundlegend für ihren Ansatz: Computational Social Scientist Beware: Simpson’s Paradox in Behavioral Data) und Jack La Violette.

Eine Frage, die sich für mich stellt: Wie wissenschaftlich sind wir mit unserer angewandten Forschung in diesem Themengebiet an der FH? Wir müssen uns mit den Themen beschäftigen, die hier diskutiert wurden, um zu klären, ob wir überhaupt einen wissenschaftlichen Anspruch erheben können—bzw. wo wir im Design und der Entwicklung tatsächlich valide Daten verwenden können. Möglicherweise gibt es hier eine tiefere Kluft zwischen wissenschaftlichem Anspruch und datenbasierter Praxis, als uns klar ist: Die kommerzielle, erfolgsorientierte Datenerhebung beeinflusst die Qualität der Daten. Wir tappen, wenn wir über Online-Medien und ihre Nutzung sprechen, vielleicht viel mehr im Dunkeln, als es die Big Data-Begeisterung suggeriert.

Gestern in der Libération gelesen:

Anna Tsing: «Fabriquer des mondes n’est pas réservé aux humains, les histoires entre espèces sont entremêlées».

Ich notiere mir Anna L. Tsing, deren Namen ich schon bei Latour gelesen hatte. In diesem Interview geht es um einen japanischen Pilz, der nur auf Böden wächst, die von der Zivilisation verändert worden sind. Er steht emblematisch für Lebensmöglichkeiten in den Ruinen des Kapitalismus und ist der Ausgangspunkt für Anna Tsings Buch The Mushroom at the End of the World: On the Possibility of Life in Capitalist Ruins, das auch ins Deutsche übersetzt ist.


Am Ende des Interviews spricht Anna Tsing davon, dass die Genetik heute nicht mehr von fixen, sauber voneinander getrennten Arten ausgeht:

Während die Genetik bis ins 20. Jahrhundert auf der Idee basierte, dass jede Arte eine autonome Einheit ist—Sie konnten ein Raubtier oder ein Beutetier sein, aber sonst haben die Arten nicht interagiert—untersucht beispielsweise die ökologische Biologie der Entwicklung nun die Wechselwirkungen. Es wird nicht mehr jede Art als Nachbildung des Selben aufgefasst, immer und immer wieder. Natur- und Geisteswissenschaften müssen heute stärker miteinander verflochten werden, um neue Narrative zu schaffen. (Alors que jusqu’au XXe siècle, la génétique s’appuyait sur l’idée que toute espèce était une unité autonome—vous pouviez être un prédateur ou une proie, mais les espèces n’interagissaient pas autrement—la biologie écologique du développement, par exemple, explore désormais les interactions. Chaque espèce n’est plus perçue comme une réplication du même, encore et encore. Sciences naturelles et sciences humaines doivent aujourd’hui davantage se croiser pour créer de nouveaux récits., Übers. mit Hilfe von www.DeepL.com/Translator.)

(Zur verwandten Idee des Holobionten habe ich mir schon vor längerer Zeit die Commencement Speech von Scott Gilbert notiert.)


Anna Tsing erwähnt Holocene in Fragments: A Critical Landscape Ecology of Phosphorus in Florida, in dem sich ihr Schüler Zachary Caple mit dem Übergang vom Holozän zum Anthropozän beschäftigt. Auf der Suche nach Links zu Caple komme ich wieder beim Konzept der Technosphäre an, auf das ich jetzt erst aufmerksam geworden bin.

Am Freitag habe ich den Studierenden des Jahrgangs #cos17 eine Präsentation über Contentstrategie für das Postwachstum gezeigt, als Teil der #LecturesForFuture. Es ist mein erster Versuch, eine konsistente Präsentation zum Themenkomplex Klimakrise und Postwachstum zu erstellen. Ich hoffe, dass ich sie weiter ausbauen kann. Die Versionen sind auf GitHub archiviert.

Ich bin nicht sicher, dass man den Gedankengang ohne mündlichen Vortrag folgen kann. Die Argumentation ist:

  1. Der CO2-Gehalt der Atmosphäre ist seit Beginn der Industrialisierung kontinuierlich gestiegen, am deutlichsten veranschaulicht in der Keeling-Kurve. Der Anstieg hat sich in den letzten 40 Jahren noch einmal deutlich beschleunigt.

  2. Das CO2 in der Atmosphäre führt zu einer Erhöhung der Temperaturen, die ab einem Anteil von ca. 450 Parts Per Million noch deutlich katastrophalere Konsequenzen haben wird, als wir sie jetzt schon beobachten können. Um das Klima halbwegs stabil zu halten, muss so schnell wie möglich darauf verzichtet werden, weitere Treibhausgase in die Atmosphäre zu pumpen (Veranschaulichung: Szenarien des Weltklimarats).

  3. Der Zusammenhang von globaler Erwärmung und CO2-Gehalt (andere Treibhausgase wären auch noch zu berücksichtigen) ist durch jahrzehntelange wissenschaftliche Forschung belegt. Wichtig dafür war die Möglichkeit, dass Weltklima mit Computern zu modellieren, und die Erkenntnis über den Zusammenhang von CO2 und den Temperaturen auf der Venus (Veranschaulichung: Eine der ersten Studien über globale Erwärmung).

  4. Bereits jetzt können wir eine Fülle katastrophaler Ereignisse beobachten, deren Zahl und Ausmaß vom Klimawandel abhängt (Veranschaulichung: Meldungen über die Erwärmung der Ozeane, das Abschmelzen des Polareises und die Dürre in Indien).

  5. Um die globale Erwärmung in Grenzen zu halten, muss eine absolute Grenze der Gesamt-CO2-Emissionen festgelegt werden, aus der sich für die Zivilisation insgesamt und für jeden Menschen ein CO2-Budget ergibt. (Veranschaulichung: CO2-Uhr des Guardian). Das gerade noch vertretbare Budget pro Kopf der Weltbevölkerung liegt in der Größenordnung von einer Tonne pro Jahr.

  6. Wir tragen durch den gesamten Lebensstil in den reichen Ländern zur globalen Erwärmung bei. Die reichsten Teile der Weltbevölkerung verursachen den bei weitem größten Anteil der globalen Erwärmung. Die globale Erhitzung erfordert einen radikalen Umbau der Wirtschaft (Veranschaulichung: Daten über CO2-Ausstoß, besonders in Deutschland.)

  7. In der Zeit, die noch zur Verfügung steht, um die Wirtschaft CO2-frei zu machen, wird man das Wirtschaftswachstum nicht in ausreichendem Maß vom CO2-Ausstoß abkoppeln können (Veranschaulichung: Szenarien des Weltklimarats, interpretiert durch eine neue Arbeit zur Hypothese eines grünen Wachstums). Die globale Erhitzung wird sich nur durch eine Schubumkehr in der Wirtschaft stoppen lassen, durch die der Energieverbrauch vor allem in den reichen Ländern drastisch sinkt. Diese Schubumkehr muss die gesamte Wirtschaft betreffen.

  8. Damit stellt sich die Frage, wie Contentstrategie jenseits einer Wachstums-Perspektive betrieben werden kann. Das Motto Content First! lässt sich auch als Motto einer dematerialisierten Wirtschaft verstehen.

Es hat mich überrascht, dass die Studierenden in der Diskussion die Geamtargumentation nicht kritisiert haben. Sie haben eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht, mit Inhalten eine ressourcenschonendes Wirtschaften zu unterstützen. Die wichtigste Kritik an der Präsentation war, dass die Möglichkeit, den CO2-Gehalt der Atmosphäre mit neuen Technologien zu reduzieren, zu wenig berücksichtigt wird. Darauf muss ich noch eingehen. Ich habe mich in der Präsentation einfach auf die Aussage in der Literatur verlassen, dass solche Technologien in den nächsten 20 Jahren nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung stehen.


Für waren sind bei dieser Präsentation zwei Gesichtspunkte wichtig:

  • Ich möchte mich an wissenschaftlichen Ergebnissen und Argumentationen orientieren, nicht an Ideologien. Die Orientierung an der Wissenschaft ist entscheidend für die Glaubwürdigkeit der gesamten #FridaysForFuture-Bewegung.
  • Ich möchte fokussiert in Bezug auf CO2 und den Klimawandel argumentieren, auch wenn ich inzwischen generell davon überzeugt bin, dass wir eine Postwachstums-Ökonomie ansteuern müssen. Die Degrowth-Perspektive muss sich aus empirischen Daten ergeben, sie darf nicht vorausgesetzt werden. Das bedeutet aber nicht, dass nicht auch ohne Klimawandel die Biosphäre so bedroht ist, dass die erwähnte Schubumkehr notwendig ist.