Ich kenne David Abulafias Namen, weil mir Regina vor Jahren seine Biografie des Mittelmeers geschenkt hat. Ich habe in den letzten Wochen öfter an an das Buch gedacht und mir vorgenommen, es zuende zu lesen, wenn wir im Sommer auf Žirje sind. Das Abulafia in Graz liest, habe ich erst ein paar Stunden vor der Veranstaltung gesehen.
Der Abend begann sehr verhalten, und Abulafia las zuerst wie ein distanzierter Professor. Aber je mehr er zwischen den Leseabschnitten mit Steffen Schneider ins Gespräch kam, und noch mehr, als er auf Fragen der Zuschauer antwortete, hörte man ihm als einem Erzähler zu. Er macht die akademische Geschichtschreibung zum Medium des Erzählens und zeigt die erzählerischen Potenzen des wissenschaftlichen Vorgehens, er illustriert nicht im Nachhinein auf anderem Wege erschlossene, unanschauliche Fakten. Oder vielleicht, umgekehrt: Er macht die Erzählung zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Erschließung, bis dahin, dass er die Geschichte eines ganzen Meeres erzählt. In diese Geschichte verwoben ist die Geschichte seiner Familie. Er selbst sagte, dass ihm diese persönlichem Motive seiner Arbeit erst im Nachhinein bewusst geworden sind. Abulafia stammt aus einer sephardischen Familie, deren Mitglieder im Laufe der Jahrhunderte an vielen Orten des Mittelmeerraums gelebt haben.
Dass Erzählen und Darstellen für Abulafia nicht nachrangig ist, lässt mich jetzt auch seine Bemerkungen zu Fernand Braudel verstehen, dessen Werk zum Mittelmeer einen Intertext von Abulafias Buch bildet. Abulafia hat sich nicht methodisch oder theoretisch von Braudel abgesetzt, sondern gesagt, dass Braudels Mittel für ihn nicht ausreichten, um die Geschichte des Mittelmeers zu erzählen. Braudel, so habe ich es in Erinnerung, hätte das Mittelmeer zu sehr von den Landregionen her verstanden, die es umgeben. Vielleicht zielt auch die andere kritische Bemerkung Abulafias zu Braudel nicht nur auf ein falsches theoretisches Konzept, sondern auf einen Ansatz, der erzählerisch nicht funktioniert: Er habe sich zu wenig mit den Menschen beschäftigt. Für Abulafia selbst stehen die menschlichen Entscheidungen im Mittelpunkt. Menschliche Handlungen wie die Gründung Alexandrias nach einem Traum Alexanders des Großen könnten Folgen über Jahrtausende haben. Durch menschliche Entscheidungen könnten sich Situationen auch sehr schnell verändern, in viel kürzen Zeitspannen, als sie Braudel erfasst habe: Not all change is slow.
In der Diskussion sprach Abulafia vom Mittelmeer als einem open space. In diesem Raum ist nichts fix. Diese Nichtfixiertheit ist ein Leitthema Abulafias. Sie betrifft alle Entitäten, auch die sogenannten Völker. Abulafia schreibt über Schiffe, Menschen und Völker, die sich bewegen. Die Portugiesen, die in der frühen Neuzeit in Italien auftauchen, seien äußerlich konvertierte Juden aus Spanien gewesen, die sich dann in späteren Generationen in Holland angesiedelt und niederländisch gesprochen hätten. Für die mediterranen Städte, die Abulafia—mit Nostalgie—porträtierte, ist charakteristisch, dass in ihnen unterschiedliche Gruppen, wie Griechen, Juden, Armenier zusammenleben, dass sie sich nicht ethnisch verstanden. In Triest habe sich diese Vielfalt etwas besser erhalten als in vielen anderen der berühmten mediterranen Städte. In Smyrna und später in Alexandria habe sie der Nationalismus ausgelöscht.
Something very precious hast been lost and is very difficult to replace.
Ich habe Abulafia in der Diskussion nach den Besonderheiten Dubrovniks gefragt, und er ist sofort auf die multiple Identität dieser Stadt zu sprechen gekommen, auf die drei Sprachen (kroatisch, italienisch, dalmatinisch), die dort früher gesprochen wurden, und auch auf ihre Mittler-Position zwischen dem Meer und den Balkanländern. Zum Thema Abulafia als Erzähler gehört auch, dass das historische Wissen bei ihm persönliches Wissen ist, das er bei den Fragen, die ihm gestellt wurden, sofort abrufen kann, und dass er mit diesem Wissen ein bestimmtes Publikum oder auch einen einzelnen Fragesteller ansprechen und erreichen kann.
In der Diskussion erwähnte Abulafia mehrfach Katalonien und Barcelona, wo man die katalanische Identität nie ethnisch verstanden habe. Er zitierte Artur Mas, der davon geträumt habe, dass die Migranten aus Afrika den Keim einer neuen multikulturellen Gesellschaft in Barcelona bilden würden. Dass Abulafia die Beweglichkeit und Offenheit des Meers der Statik der Territorien gegenüberstellt, motiviert vielleicht auch sein Engagement für den Brexit, für den er als Sprecher der Historians For Britain eintritt.
Nach Kroatien möchte ich mir im Sommer Abulafias Mittelmeer-Buch mitnehmen, und dieses oder ein anderes mal auch einige andere Bücher, die ich an dem Abend im Literaturhaus kennengelernt habe: Abulafias spätere Geschichte der Ozeane The Boundless Sea, The Corrupting Sea von Peregrine Horden und Nicholas Purcell, ein anderes neueres klassisches Werk zu Geschichte des Mittelmeers, In Search of the Phoenicians, in dem Josephine Quinn die Phönizier als eine Fiktion der nationalistischen Geschichtsschreibung bezeichnet, und Texte von Amin Maalouf wie Les Identités meurtrières.