In dieser Woche habe ich meinen Vater besucht. Mein Vater ist 1922 geboren, er hat seit etwa 90 Jahren wahrscheinlich jeden Tag etwas gelesen. Wenn ich ihn sehe, sprechen wir immer auch über Texte. Wenn er schlafen geht, nimmt er ein Reclamheft mit Seneca-Briefen, ein Smartphone und eine Brille mit.
Wir haben in der letzten Woche zwei Seneca-Briefe zusammen übersetzt. Ein wenig hat mich das in meine Schulzeit zurückversetzt, als ich vor jeder Latein-Schularbeit Nachmittage mit meinem Vater gelernt habe. Wahrscheinlich habe ich mich damals daran gewöhnt, Texte zu lesen, die sich nicht einfach erschließen, die man übersetzen muss, und die immer auch fremd bleiben—die einen aber auch hoffen lassen, die fremde Sprache, in der sie geschrieben sind, irgendwann zu beherrschen, so dass man sie ohne Übersetzung einfach versteht.