Sue Robinson versteht ihren Artikel Gateway or Gatekeeper – The institutionalization of online news in creating an altered technological authority (PDF-Download) als Vorarbeit zu einer new journalism institutional theory. Interessant ist der Aufsatz nicht so sehr wegen seiner Thesen zum Online-Journalismus sondern wegen deren Begründung. Die Autorin stützt sich auf ein solides theoretisches Konzept und auf eine davon methodisch abgeleitete Pilotstudie. Robinson geht von einer institutionellen Theorie des Journalismus aus, wie sie wohl vor allem Timothy Cook in seinem Buch Governing with the News von 1998 formuliert hat. Drei Komponenten machen den Journalismus zu einer stabilen Institution, die gleichwertig neben anderen Teilsystemen moderner Gesellschaften steht: das Selbstverständnis der Journalisten, die Routinen und Praktiken, die professionellen Journalismus definieren, und seine gesellschaftliche Autorität. Robinson skizziert auf wenigen Seiten, wie es dem klassischen Journalismus gelingt, die soziale Realität zu konstruieren und zu rekonstruieren, indem er den Kontext herstellt, innerhalb dessen soziale Erscheinungen wahrgenommen und definiert werden (G. Tuchman).

Das Internet verändert den Journalismus in seinem institutionellen Kern. Um diese Veränderungen zu erfassen, wertet Robinson Interviews mit den Verantwortlichen für die Online-Auftritte großer amerikanischer und einer spanischen Zeitung aus; einige dieser Gespräche führte sie selbst, andere finden sich auf Cyberjournalist.net.

Zwar verstehen die befragten Online-Journalisten ihre Mission kaum anders als ihre Kolleginnen in den traditionellen Medien: Sie betrachten es als eine ihrer Hauptaufgaben, wichtige und unwichtige, glaubwürdige und unglaubwürdige Nachrichten zu unterscheiden, begreifen ihre Tätigkeit also als autoritativ. Alle Gesprächspartner beschreiben aber ihr Handwerk als eine Tätigkeit, die mit herkömmlichen journalistischen Schreib- und Erzählpraktiken nur noch wenig zu tun hat, technikgeprägt ist und viel mehr Freiheiten bietet als sie die eingeschliffenen Zunft-Regeln ließen. Journalistische Dienstleistungen treten an die Stelle journalistischer Produkte, die Arbeiten sind nicht nur multimedial, sondern auch multidimensional; sie präsentieren die Realität roh, ohne die überkommenen Verfahren journalistischer Zubereitung. Noch radikaler haben sich die Beziehungen zwischen Journalistin und Publikum bereits verändert: Online-Journalisten arbeiten im Dialog mit ihren Adressaten, sie erhalten Feedback von ihren Lesern, ja sie werden von diesen sogar beauftragt, bestimmte Recherchen durchzuführen. Online-Journalisten, heisst es einmal, bringen nicht eine Geschichte zu den Lesern, sondern nehmen die Leser auf ihre Reise mit. Sie arbeiten dabei eng mit Menschen zusammen, die einen ganz anderen professionellen oder sozialen Hintergrund haben als sie selbst — vom Web- und Multimediatechniker über Bürgerjournalisten bis zu Webloggern.

Die institutionelle Burg des Journalismus wird geschleift. Die physische Wirklichkeit sorgt nicht länger für Abstand zwischen Journalistin und Leserin: beide halten sich zusammen im Cyberspace auf, die Geschwindigkeit der Kommunikation ist nicht mehr an die Zeit gebunden, die für die Überwindung räumlicher Entfernungen nötig ist.

Robinson legt keine vollständige Theorie vor, aber ihr Verständnis des Journalismus als Institution liefert ihr einen Bezugsrahmen, um Selbstbeschreibungen von Journalisten produktiv zu interpretieren. Sie kann damit zugleich distanziert und genau erfassen, wie radikal sich der Journalismus als soziale Tatsache gerade verändert. An einer Stelle spricht sie von „mildem technischen Determinismus“; diese Bezeichnung trifft ihre eigene Position recht gut. Ein Manko ihres Ansatzes sehe ich darin, dass sie kein Konzept des Internet oder besser, des Web hat, das ähnlich gut begründet und durchformuliert ist wie ihr Begriff vom Journalismus als einer Institution. Deshalb kann sie den Online-Journalismus nur mit denselben Metaphern beschreiben, die ihre Gesprächspartner verwenden — wenn auch vor einem expliziteren theoretischen Hintergrund. Es wird nicht deutlich, ob die Eigenschaften des Web und des Online-Journalismus lediglich das Ergebnis technikhistorischer Zufälle sind. Notwendig wäre hier auch eine Theorie des WWW als einer Institution; eine ihrer Ausgangspunkte könnte Roy Fieldings Dissertation Architectural Styles and the Design of Network-based Software Architectures bilden.

Zuerst wollte ich nur auf turi2 hinweisen, Peter Turis Medien-Blog, angelegt als ein ins Digitale übersetzter Kress-Report. Aber auch die anderen (neuen) Aktivitäten Turis im Netz verdienen Hinweise — vom Küchenruf, der als Teil der Open-Sauce-Bewegung für kostenlosen, gemeinsamen Spaß am Leben kämpft über Artikel für die Wirtschaftswoche (bei wort-klauber.de) bis zu dem Zitatblog Zitate 2.0. Turi ist einer der interessantesten deutschsprachigen Medienjournalisten, sehr gut informiert, ein hervorragender Schreiber.

Lesenswert für zukünftige Journalistinnen sind (neben den
Sieben Erfolgs-Geheimnisse des Günther Kress) die 12 Thesen zur Zukunft der Verlage. Turi:

Ein Journalist oder ein Schreiber zu sein, ist in Zukunft kein priviligierter Beruf, sondern eine Fähigkeit wie Autofahren.

Turis Blog wird vor dem Hintergrund seiner Biografie gelesen, von Klaus Ecks Turi 2.0 bis zu der leider unsäglichen Troll-Debatte bei Rebellen ohne Markt: Turi war lange Chef des Kress Reports, eines der wichtigsten deutschen Organe für die Medienbranche. Sein Name ist mit einem der schnellsten Zusammenbrüche der New Economy verbunden: 2001 kaufte er die Zeitschrift Net-Business, die nach nur drei Ausgaben unter Turis Regie eingestellt werden musste (siehe "Netbusiness": Der Letzte macht das Licht aus).

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From Dan: A Letter to the Bayosphere Community: Dan Gillmor reduziert sein Engagement für Bayosphere und widmet sich dem nichtkommerziellen Center for Citizen Media. In dem ausführlichen Brief an die Community erklärt er seine Gründe. Als kommerzielles Projekt enttäuschte Bayosphere bisher die Investoren. Gillmor und sein Partner haben schon vor einiger Zeit entschieden, kein Venture-Kapital mehr in das Projekt zu stecken.

Gillmor macht vor allem sich selbst, sein mangelndes unternehmerisches Geschick dafür verantwortlich, dass das Bayosphere-Projekt nicht wirklich abgehoben hat. Außerdem beginne er erst jetzt, die Kunst der Community-Bildung zu verstehen.

Gillmor ist einer der prominentesten Vertreter des Citizen Journalism, und sein Wechsel zu einer Non-Profit-Organisation wird diejenigen beruhigen (wenn nicht befriedigen), die den Journalism by the people, for the people höchstens als Karikatur der seriösen Publizistik respektieren. Tatsächlich hat Gillmor das Bayosphere-Projekt aber nicht völlig aufgegeben, und er schwört dem Bürgerjournalismus keineswegs ab. Gescheitert ist ein Geschäftskonzept, nicht eine Idee. Trotzdem jammerschade!

So absonderlich es klingen mag: Von Europa aus darf man die Frage stellen, ob die Bay Area die richtige Region ist, um ein solches Projekt zu beginnen. Wer dort dort technikaffin ist (wie es die Bayosphere sein wollte) und im Netz publizieren will, dem stehen genügend Communities offen. Kalifornien ist für ein solches Projekt der Dezentralisierung vielleicht einfach nicht dezentral genug.

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Auch der ORF hat jetzt sein Watchblog: ORFblog.org. Laut Impressum beschäftigt es sich nur mit der Website ORF.at. Erster Eindruck: Die Kritik an Details wirkt gelegentlich rechthaberisch, zumal die Sprache der Kritiker nicht frei von den schiefen Formulierungen ist, die dem Gegenstand angekreidet werden (beim Lesen dieses skandalösen Vorfalls). Die politische Funktionalisierung des ORF (Newsroom als Darkroom) gerät bisher nicht in den Blick [via Schockwellenreiter].

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David Weinberger:

Wikipedia is obviously not the first and only instance of this type of knowing in our history. But the balance of heroic individual knowers and persistent, pseudonymous social processes is sufficiently different that the media generally have gone wrong with this story. After all, reporters are held accountable when they get something wrong, so why shouldn’t Wikipedians?
A: Because Wikipedia isn’t a newspaper and newspaper practices aren’t the only way to knowledge. (JOHO – December 29, 2005)