Lese endlich Knowing Knowledge (PDF, hier Link zur Printversion bei Amazon.de) von George Siemens. Gestern hat Claudia Bremer in dem kurzen Artikel Konnektivismus darauf hingewiesen, dass Siemens den Konnektivismus nicht als eine Lerntheorie versteht, sondern als ein praktisches Konzept für das Lernen in der Netzwerkgesellschaft. Das hat das Buch für mich interessanter gemacht—ich kann die Universaltheorien über das Lernen und die Gesellschaft nicht mehr verkraften, und die Komplettgebäude wie der Konstruktivismus, die Systemtheorie oder eben der Konnektivismus sind mir ein Graus.
Diskursive Begründung und differenzierte Auseinandersetzung mit anderen Positionen sind—jedenfalls in diesem Buch—nicht Siemens’ Sache—er philosophiert wie Nietzsche, an den ich beim Lesen immer wieder denken muss, mit dem Hammer, er ist ein aphoristischer Denker und zeigt dem Leser mehr, als er ihm etwas erklärt. Wenn man sie aus dem Zusammenhang des Textes löst, sind viele seiner Sätze Binsenweisheiten.
Wenn ich das Buch auf meinen eigenen Unterricht beziehe und als Beschreibung dessen lese, was ich tue, nicht tue oder tun könnte, dann ist es eine äußerst erhellende Lektüre. Ich merke, dass ich selbst mich immer wieder bemühe, Wissen in die Container zu füllen, von denen Siemens spricht, und mich wundere, dass das nicht funktioniert. Ich könnte meinen Unterricht wahrscheinlich besser planen und seine Ziele genauer beschreiben, wenn ich mich an den Kategorien von Siemens orientieren würde. Bei dem Gebiet, das ich unterrichte—Webkommunikation—kommt es sicher mehr auf das wissen, wo, das Wissen über die eigene Rolle und die Fähigkeit zu transformieren an, als auf einen Menge von mehr oder wichtigen Fakten und systematische Verbindungen zwischen ihnen. Bei Siemens ist es Ziel und Kriterium des Lernens, dass das Wissen current ist. Dabei darf die (von außen hergestellte) Struktur nicht an die Stelle der (sich beim einzelnen Thema herstellenden) Organisation treten. Genau darum geht es aber auch bei der Einführung in die Kommunikation im Web: Man muss in einem Netzwerk erfassen, was das gerade relevante Wissen ist, und man muss ausgehend von komplexen Problemen das Wissen immer wieder reorganisieren. Ich denken selbst noch immer zu deduktiv und überfordere mich und andere durch den Anspruch, Webthemen mehr oder weniger systematisch darstellen zu können.
Das würde bedeuten, dass ich (wie die anderen Lernenden, die Studierenden z.B.) bei jedem Thema von einer potenziell unüberschaubaren Anzahl von Perspektiven und Verknüpfungsmöglichkeiten ausgehen muss. Der Anspruch, dabei eindeutig und dauerhaft zwischen den relevanten und den weniger relevanten Aspekten zu unterscheiden, lässt sich nicht aufrechterhalten und blockiert die Vermittlung. Man bastelt als Lehrender und Lernender, und man kann dieses Basteln nie durch den großen Überblick ersetzen.
Sorry wegen dieser Allgemeinheiten! Interessant wäre jetzt, wie das bei einem bestimmten Thema aussieht, z.B. bei Twitter. Bisher versuche ich, wenn ich ein solches Thema vermittele, von einer Art Basiswissen auszugehen und dieses Wissen zu vermitteln und dann auszuweiten. Der konnektivistische Ansatz bestünde dagegen darin, die Lernenden dazu zu bringen, sich über Twitter (und auf anderem Wege) zu vernetzen und in einem Netzwerk Twitter aus unterschiedlichen Perspektiven kennenzulernen. Das hört sich simpel an, aber so habe ich den Unterricht bisher nicht verstanden—anders, als wohl meine Kollegin Jutta Pauschenwein.
Ich merke jetzt zum ersten Mal, wie die Themen, die wir gerade im #MMC13 behandeln, mit meinem eigentlichen Job zusammenhängen, und das lässt sich sicher für die Thematik von Web Literacy und Content Strategy weiterdenken, mit der wir uns im Web Literacy Lab beschäftigen.
Noch ein letzter Gedanke: Siemens bezieht seine Konzepte auf die heutige Wissensgesellschaft—sein Ansatz erinnert mich aber auch an die rhetorische Tradition. Auch in der Rhetorik wurde ein Ethos vermittelt; es wurde gelernt, wie man etwas findet und aktualisiert; das rhetorische Wissen wurde nicht wirklich systematisiert. Vielleicht kann man den Konnektivismus als rhetorisches Herangehen an das Lernen heute verstehen—mit einer notwendigen und begründeten Distanz zu wissenschaftlichen Methoden.