Im Grazer Web Literacy Lab haben wir mit der Arbeit in drei inhaltlichen Work Packages begonnen. Die drei Fragen, die wir beantworten wollen, sind:

1) Aus welchen Kompetenzen besteht Web Literacy?

2) Welche dieser Kompetenzen bzw. welche Konkretisierungen dieser Kompetenzen sind für Unternehmen und Organisationen relevant?

3) Wie lässt sich Web Literacy am wirkungsvollsten vermitteln?

Auch wenn es gerade eine unserer Aufgaben in der ersten Phase des Projekts ist, zu präzisieren, was Web Literacy ist, brauchen wir einen Vorbegriff von ihr, um die verschiedenen Teile unseres Projekts koordinieren zu können. In diesem Post versuche ich, diesen Vorbegriff thesenartig zu formulieren—als Vorschlag für die interne und externe Diskussion.

Web Literacy bezeichnet die Fähigkeit, mit den Mitteln des Web und in der Umgebung des Web erfolgreich zu kommunizieren.

Ebene 1: Technische und rhetorische Skills

Bezogen auf das, was man beherrscht, wenn man sie besitzt, gehören zur Web Literacy die Fähigkeiten,

  • Information im Web aktiv und passiv zu organisieren,
  • Texte und Medien für die Kommunikation im Web zu produzieren und
  • sich im Web mit anderen zu vernetzen.

Dieses Modell der Web Literacy leitet sich aus dem Model-View-Controller-Pattern ab: Texte und Medien lassen sich als Models, die Möglichkeiten der Informationsorganisation als Views und die sozialen Beziehungen im Web als Controllers interpretieren. Auf dieser Ebene lässt sich Web Literacy als eine Menge von miteinander verbundenen Skills oder Techniken verstehen. Unsere Forschungsaufgabe im Web Literacy Lab ist es, diese Skills, bezogen auf bestimmte Kontexte, zu beschreiben, um sie dann in einem weiteren Schritt lehren zu können. Man kann diese Skills mit den Fähigkeiten vergleichen, die man braucht, um ein Instrument zu spielen. Ein Teil dieser Fähigkeiten (z.B. Noten lesen, das tonale System kennen) ist vom einzelnen Instrument unabhängig, ein anderer Teil nicht. Alle gehören sie in einen kulturellen Kontext (z.B. den der europäischen musikalischen Tradition). Konkret sind die drei Aspekte Informationsmanagement, Medienproduktion und Beziehungs- und Idenitätsmanagement im Web immer miteinander verbunden. Wer Twitter verwendet muss zum Beispiel mit Tools umgehen, um seinen Newsfeed zu organisieren und ihn in sein Informationsuniversum zu integrieren (Informationsmanagement), Tweets verfassen können, die relevant sind und Aufmerksamkeit erzeugen (Medienproduktion) und sich mit anderen Twitterern vernetzen können, vor allem indem er ihnen folgt oder sich folgen lässt (Beziehungs- und Identitätsmanagement).

Ebene 2: Sensemaking im Web

Bezogen darauf, wie und wozu man diese Skills benutzt, ist Web Literacy die Fähigkeit, die digitalen Artefakte des Web zur Organisation im weitesten Sinn zu verwenden. Der Ausdruck Organisation im letzten Satz bezieht sich sowohl auf soziale Beziehungen wie auf Wissen und Tatsachen. Die digitalen Objekte des Web sind immer eingebettet in Speech Exchange Systems der Alltagskommunikation, sie haben Funktionen für die Accountancy, für die Berichtbarkeit/Darstellbarkeit von sozialen Tatsachen—ohne die diese gar nicht existierten, und sie sind Teil von Handlungssystemen. Auf dieser Ebene kann man Web Literacy mit den Fähigkeiten vergleichen, die man braucht, um Teil eines Orchesters zu sein und mit anderen zusammenzuspielen. Ich würde sie provisorisch (in Anspielung auf K.E. Weick) als Sensemaking bezeichnen. Diese Ebene wollen wir im Web Literacy Lab mit Methoden erforschen, die schon verwendet wurden, um z.B. das Zusammenspiel von Musikern, die Arbeitsweisen von Innovationscommunities oder auch die Alltagspraxis von Wissenschaftlern zu untersuchen.

Diese zweite Ebene ist viel schwieriger präzise zu erfassen als die erste. Vielleicht kann ich mit weiteren Vergleich erläutern, was mit ihr gemeint ist: Übertragen auf eine Sprache ginge es auf der ersten Ebene darum, grammatisch korrekte Sätze und Texte zu produzieren, auf der zweiten darum, Gespräche zu führen, mit anderen zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten. Übertragen auf die Wissenschaft ginge es auf der ersten Ebene darum, z.B. physikalisches Wissen zu vermitteln, auf der zweiten um die konkrete wissenschaftliche Praxis etwa im Labor. Um diese Ebene zu erforschen, wollen wir uns an Forschungen zur Gesprächsführung (Conversation Analysis) oder auch zur Praxis im Labor (Ethnomethodologie, Actor Network Theory) orientieren.

Methodisch können wir uns auf der ersten Ebene u.a. daran orientieren, welche Skills konkret z.B. bei Unternehmen und in Agenturen nachgefragt werden, welche Fähigkeiten in ähnlichen Projekten vermittelt werden, welche Kompetenzprofile bei der Diskussion über neue oder veränderte Berufsfelder (Social Media Manager, Online-Journalist, Facilitator) formuliert werden und welche Aussagen über Skills und Literacy sich aus der Entwicklung des Web ableiten lassen oder bereits abgeleitet wurden (so verlangt Tim Berners-Lee, wie ich heute von Julian erfahren habe, die Vermittlung von Data Literacy bereits in der Grundschule. Für die zweite Ebene brauchen wir wohl vor allem genaue Beschreibungen von Webkommunikation. Ob wir hier zu validen Ergebnissen kommen, ist offen. Ich glaube aber, dass allein die Forschung auf dieser Ebene unsere Fähigkeit, Web Literacy zu vermitteln, vergrößern wird, weil sie unseren Blick für die kommunikativen Phänomene schärft, um die es hier geht.

Ich habe in diesem Post einiges aus früheren Posts und Präsentationen zur Web Literacy wiederholt. Bei uns beginnt jetzt die Phase konkreter Forschungen zu diesem Thema. Ich bin vor allem gespannt, ob es uns methodisch gelingt, Besonderheiten der Webkommunikation als sozialen Phänomens zu erfassen.

2 Kommentare zu “Zwei Ebenen der Web Literacy

  1. Ich gehe mal davon aus, dass ich dir mit dem Journal of Computer Mediated Communication als Quelle interdisziplinärer Forschungsansätze kein Geheimnis ans Herz lege. Die Perspektive aus der ethnomethodologischen Gesprächsanalyse und co scheint mir ein wenig zu fixiert auf eine bestimmte Denkschule der Soziologie/Linguistik, aber vielleicht hast du ja noch andere Eisen im Feuer oder findest damit einen vielversprechenden Ansatz, der sich mir im Moment nicht erschließt. Viel Erfolg!

  2. Im Sinne der medienpädagogischen Definition von Medienkompetenz gibt es sogar 3 Dimensionen von Social-Media-Kompetenz: 1) Wissen (Funktions-, Struktur-, und Orientierungswissen zu Social Media), 2) Bewerten (Reflexion der Nutzung und Wirkung von Social Media), 3) Handeln (eigene Social-Media-Aktivitäten).
    Bin gespannt mehr von euren Forschungen und Ergebnissen zu hören!
    Viele Grüße,
    Jana

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