Gestern haben wir es im Standard erfahren: Studie: Facebook ist für Jugendliche “tot“. Die Kleine Zeitung kommt zum gleichen Ergebnis. Dieselbe Nachricht fand sich unter anderem bei Forbes, im Independent und im Guardian, der Quelle für den Standard-Artikel.

Auf der Website des Forschungsprojekts, zu dem die Studie angeblich gehört, findet sie sich allerdings nicht, sondern nur ein bereits über einen Monat altes Blogpost Daniel Millers, eines der Wissenschaftler, die für dieses Projekt verantwortlich sind: What will we learn from the fall of Facebook? In diesem Post macht Miller klar, dass er Interviews mit 16 bis 18 Jahre alten Schülern interpretiert, und zwar als Bestätigung einer Theorie über das Zusammenwirken verschiedener Medien. Er gibt seinen Aussagen keineswegs den Anschein besonderer wissenschaftlicher Dignität. Das Post ist damals wohl ohne großes mediales Echo geblieben.

Die eigentliche Quelle für die Zeitungsartikel ist ein weiteres Blogpost Millers, in dem er sein älteres Post vereinfacht und zusammenfasst. Miller selbst war über die Wirkung seines Texts offenbar entsetzt. Ihm ist klar, dass er eine eher alltägliche Beobachtung wiedergab: Englische Teenager finden andere Apps cooler als Facebook und benutzen sie lieber zur privaten Kommunikation:


Die Story sagt viel über die Arbeitsweise von Zeitungen (ich generalisiere mit Absicht): Recherche und Reflexion sind Ausnahmen. Passt eine Geschichte ins Bild (Facebook wird überschätzt und ist eh böse), wird sie gnadenlos abgeschrieben und aufgeblasen, auch wenn die Faktenbasis noch so mickrig ist.

Sie sagt aber auch etwas über die Glaubwürdigkeit von Sozialwissenschaftlern und die Leichtgläubigkeit ihres journalistischen Publikums. Hier hat ein Wissenschaftler, Daniel Miller, Interviews geführt oder führen lassen, daraus Schlüsse gezogen und seine Gedanken publiziert. Das Prädikat der Wissenschaftlichkeit macht diese eigentlich journalistische Arbeit so interessant, dass diejenigen, die sie vom Hörensagen zitieren, ihrerseits einen journalistischen Anspruch erheben können. Die behauptete wissenschaftliche Qualität einer journalistischen Arbeit legitimiert die behauptete journalistische Qualität einer Abschreibe-Arbeit. Der wissenschaftliche Rahmen der Aussagen Millers und der journalistische Rahmen der Berichte über diese Aussagen lassen ein paar banale Statements zu einer internationalen Nachricht anschwellen.

4 Kommentare zu “Facebook ist tot

  1. Die Zahl an Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, die genauso arbeiten ist leider dementsprechend groß. Schuld daran ist meiner Meinung nach das völlige Fehlen einer wissenschaftstheoretischen Grundausbildung im Rahmen des Grundstudiums. Kaum hinterfragt oder reflektiert wird aus einer, in kleinster Weise aussagekräftiger Stichprobe ein „wissenschaftlicher“ Beitrag zusammen gescheitert. 🙁

    • Das stimmt auf der ganz allgemeinen, handwerklichen Ebene – wobei ich mich gar nicht ausnehmen möchte. Es stimmt vielleicht aber auch auf einer tieferen Ebene, die die Wissenschaftlichkeit der Sozialwissenschaften betrifft. Vielleicht ist auch die Grenze zwischen gutem Journalismus und guter Sozialwissenschaft fließend. Und möglicherweise sind sie beide so etwas Formen der Geschichtsschreibung. Aber sorry, ich verliere mich!

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