Henry Jenkins unterrichtet am MIT Medientheorie und beschäftigt sich intensiv damit, wie media literacy vermittelt werden kann. (Da mich dieses Thema immer mehr interessiert, steht er schon länger auf meiner Liste zu lesender Autoren.) Einige Gedanken/Begriffe aus seinem Work in Progress WHAT WIKIPEDIA CAN TEACH US ABOUT THE NEW MEDIA LITERACIES [via hrheingold’s bookmarks]:

  1. Medienkompetenz im Vor-Web-Zeitalter war auf Rezeptions- und Ausdrucksfähigkeit gerichten, heute liegt der Akzent auf Kommunikation und Partizipation. (Historisch stimmt das nur bedingt; die rhetorische Tradition, in der wir ja alle stehen, hat immer Wert auf Teilhabe am öffentlichen Leben gelegt.)

  2. Die Kompetenzen, die für die Kommunikation im Web wichtig sind, unterscheiden sich nicht grundsätzlich von den Fähigkeiten, die man braucht, um mit herkömmlichen Medien umzugehen; sie bauen darauf auf. Das entspricht meinen Eindrücken im Unterricht und z.B. auch bei Barcamps. Mit den neuen Medien gehen die Leute am erfolgreichsten um, die auch mit den klassischen Medien am produktivsten arbeiten. (Und umgekehrt! ) Allerdings muss dazu die technische Schwellenangst überwunden werden.

  3. Schlüsselrolle des informellen Lernen: Die meisten lernen außerhalb der Bildungseinrichtungen, mit Online-Medien umzugehen. Das dürfte nicht nur damit zusammenhängen, dass die Lehrer an Schulen und Hochschulen diese Kompetenzen nicht vermitteln können oder dürfen (und stattdessen nicht selten erkennbar überholte Kompetenzen vermitteln), sondern mit dem dezentralen und partizipatorischen Charakter dieser Medien. (Dazu sehr gut Chris Langreiter und Gernot Tscherteu (pdf) !)

  4. Bedeutung der Transparenz für soziale Medien. Die Wikipedia unterscheidet sich von den üblichen Enzyklopädien auch dadurch, dass jeder redaktionelle Schritt nachvollzogen werden kann, sie ist selbstreflexiv, wie Jenkins schreibt oder zitiert. Auch das ist eine der Qualitäten, durch die das Web den Print- und Broadcastmedien radikal überlegen ist.

  5. Spielerisches Lernen: Medienkompetenz erwirbt man, indem man mit den neuen Medien spielt. Der für mich schönste Satz in Jenkins Aufsatz:

Just as young people coming of age in a hunting based culture learn by playing with bows and arrows, young people coming of age in an information society learn by playing with information.

Am Wochenende habe ich das BarCamp Senza Confini in Klagenfurt besucht. Dank an Georg Holzer, Martin Gratzer, Ed Wohlfahrt und die anderen Organisatoren und Teilnehmer für zwei Tage konzentrierte Information und entspannten Austausch!

Warum macht es Spaß ein Barcamp zu besuchen? Am meisten sicher wegen der Menschen, die man wiedertrifft oder kennenlernt und mit denen man sich in zwischen und nach den Sessions unterhält. Bei den österreichischen Barcamps, die ich bisher besucht habe, hat sich so etwas wie eine Community herausgebildet, Leute, die in einem losen Diskussionszusammenhang stehen und nicht einen Verein oder eine fixierte Institution brauchen, um sich zu unterhalten. Angenehm ist nicht zuletzt, dass hier Prestige und Konkurrenz so gut wie keine Rolle spielen.

Barcamps bilden so etwas wie Satzzeichen in einer fortlaufenden Online-Kommunikation. Es kommen Leute zusammen, die sich untereinander in Weblogs, Social Netwoks oder via Twitter verfolgen. Auch die Barcamps selbst werden dokumentiert, man kann online an sie anschließen. Vielleicht bilden Barcamps eine eigene, komplexe Textgattung oder Metatextgattung (weniger steil ausgedrückt: eine webgestützte Kommunikationsform): wie bei anderen Online-Publikationsformen gehören zu ihnen spezifische Formen, sich gegenseitig zu beobachten (z.B. über das Wiki) und charakteristisches Bündel von Möglichkeiten, um kommunikativ aneinander anzuschließen.

Barcamps dienen nicht nur dazu, sich in komprimierter Form wechselseitig auf dem Laufenden zu halten. Sie sind Gelegenheiten, einen Überblick über die Szene zu erhalten und aus unterschiedlichen Perspektiven zu diskutieren. Ich kenne keine bessere Form, um über die Kommunikation im Web zu kommunizieren.

Hier eine Zusammenfassung meiner Notizen aus Klagenfurt und ein paar dazu gesammelte Links:

Power Laws: Die Biegung entscheidet

Die Präsentation von Matthias Lux über Power Laws habe ich leider nur zum Teil mitbekommen. (Sie ist online nachzulesen: Power Laws — Popularity And Interestingness). Matthias Lux ging es vor allem um den bend, also den Knick in den Zipf- oder Pareto-Kurven. Sie steigen nicht gleichmäßig an, sondern erst wenig und dann — manchmal — von einem bestimmten Punkt an steil. Laut Matthias ist dieser bend die Voraussetzung dafür, dass etwas tatsächlich zu einem Massenerfolg wird. Und offenbar lässt sich, wenn der bend erreicht ist, auch voraussagen, dass etwas zu einem Erfolg wird.

Ich merke mir den Begriff preferential attachment. (Preferential attachment means that the more connected a node is, the more likely it is to receive new links.) Muss endlich Barabási lesen!

Deconstructing the Horizontal Myths of Web 2.0?

Enrico Maria Milič‚ Präsentation Deconstructing the Horizontal Myths of Web 2.0 hat mich enttäuscht, auch wenn das Material interessant war. (Welcher Inhalt soll auch auf einen so aufgeblasenen Titel folgen?) Aus Statistiken über das Bloggen in Italien und den USA hat er letztlich nicht mehr abgeleitet als ein paar gut gemeinte Binsenweisheiten: Den meisten Bloggern gehe gar nicht um politische Themen, auch in der Blogosphäre herrsche eine gender hierarchy. Aber wer hat je etwas anderes behauptet? Die apostrofierten journalists and big names of the blogosphere jedenfalls nicht.

In diesem Fall ist die Auswertung von Fragebögen nicht ein wissenschaftliches Instrument, sondern ein Surrogat für eine Forschungsstrategie und eine definierte Methodik. Sie ermöglicht es, den eigentlichen Gegenstand, nämlich die Kommunikation in Weblogs, gerade nicht zu untersuchen. Matthias Lux ging in seiner Präsentation von vorhandenem Wissen über Eigenschaften von Netzen aus. Seine Überlegungen waren nicht mehr als Gedankenspiele (die er selbst zu sehr relativierte), aber in so etwas wie einem netzorientierten frame of reference. Enrico Maria Milič verzichtete für seine Auswertung von Fragebögen zu den Interessen von Bloggern auf jede blog- oder netzspezifische Hypothese und fand wohl deshalb nur Banalitäten.

Max Kossatz: Blogger Connections vs. Tags

Neue Perspektiven zeigte dagegen Max Kossatz in seiner Session über Blogger Connections auf. Auch er geht von Netzphänomenen aus. Max arbeitet an Werkzeugen, mit denen sich die Blogosphäre adäquater erfassen lässt, als es Technorati schafft. Dazu renoviert er zusammen mit Ritchie Pettauer die Deutschen Blogcharts und kartographiert die Beziehungen zwischen Bloggern in blogsvision. (Für eine alternative Visualisierung benutzt Walter Rafelsberger seine Rhizome Navigation. )

Wenn jemand nach interessanten Blogs oder Blogs zu einem Thema sucht, kann er mit den Beziehungen zwischen Bloggern mehr anfangen als mit mehr oder weniger willkürlich vergebenen Tags. Das ist Max Kossatz‘ Ausgangspunkt; deshalb wertet blogsvision die Blogrolls aus statt Tags. Die kartografische Erfassung wird allerdings dadurch erschwert, dass die IP-Adresse oft nichts mit dem Ort zu dem hat, an dem gebloggt wird. (Der Ausgangspunkt blogger connections erinnert mich an die people centered navigation, über die Ton Zijlstra im September 2006 beim Wiener Barcamp gesprochen hat.)

Facebook Ads: Demografisches Targeting via Wizard

Gestern hat Max Kossatz in einer zweiten Session zusammen mit Ritchie Pettauer das Facebook-Anzeigentool vorgestellt. Damit lassen sich über einen Wizard Anzeigen demografisch gezielt schalten (in Österreich wegen der geringen Nutzerzahl bis jetzt noch für ein paar Cent). Werbung und Kommunikation wachsen so tatsächlich zusammen — es fehlt nur noch, dass die UserInnen ihrerseits auswählen können, welche Anzeigen sie sehen wollen. Ritchie ging dann auch noch kurz auf Naymz ein; was er dazu sagte, kann man ähnlich in seinem Blog nachlesen. Naymz ist ein Social Network für professionelle Kontakte, das in den Staaten schon zu LinkedIn aufgeschlossen hat. Die Mitglieder können sich wechselseitig empfehlen; erwirbt man einen premium-Account, promoted nayms den eigenen Namen, z.B. durch Google Ads.

Zemanta: Blog-Ergänzung durch semantische Analyse

Max Kossatz‘ blogsvision dient dazu, interessante Inhalte dadurch zu finden, dass man den Beziehungen zwischen Bloggern nachgeht. Zemanta, ein slowenisches Startup, das von seinen Gründern vorgestellt wurde, findet mit semantischen Technologien Inhalte, die z.B. zu einem Blogeintrag passen. In ihrer Präsentation beschrieben Andraž Tori und Jure Cuhalev vor allem, wie sie über das Londoner Seedcamp an Risikokapital für ihr Projekt gekommen sind. Sie hoben die erfolgsorientierte Methode, Geld für die Produktentwicklung zu bekommen, von den bürokratisierten EU-Forschungsförderungen ab, die oft in Projektruinen enden. Nach meinen Erfahrungen mit EU-Projekten kann ich das leider nachvollziehen. (Etwas älteres Interview mit Andraž Tori hier.)

Coden mit Adobe Flex

Ich war auf zwei im engeren Sinn technischen Sessions. Bernd Buchegger und Ronald Linasi, bekennende Coder von trinitec, stellten Flex, Adobes Framework für Rich Internet Applications, vor und berichteten dabei auch über das neue Flex 3. Auch wenn ich kein Entwickler bin, haben mich die Aussagen zur agilen und Modell-gestützten Entwicklung am meisten interessiert. Ich weiß noch nicht, wie ich das in meinen Unterricht einfließen lassen kann, aber ich glaube, dass ein Grundverständnis dafür, was eine Web-Applikation ist und wie man sie entwickelt, auch für Jounalistinnen und Unternehmenskommunikatoren wichtig ist: Sie werden immer weniger analoge Produkte oder statische Webinhalte erstellen und immer mehr an dynamischen, miteinander vernetzten Anwendungen mitarbeiten.

Das richtige CSS-Framework finden

Horst Gutmann erläuterte einige CSS-Frameworks, darunter YAML, mit dem ich gerade selbst Erfahrungen mache (Präsentation hier). Seinen Vortrag fand ich ausgesprochen klar und verständlich, u.a. weil er verglich, wie sich mit drei Framworks ein konkretes Problem lösen lässt: das Anlegen eines vierspaltigen Layouts. Im nächten Semester habe ich eine Lehrveranstaltung zu HTML und CSS. Diesmal werde ich versuchen, die Studentinnen mit wenigstens einem dieser Frameworks arbeiten zu lassen — u.a., weil sie damit eher ein Erfolgserlebnis haben dürften als bei dem Versuch, mit etwas Basiswissen ein komplettes Layout aufzubauen.

Fiber to the home in Österreich: Gemeinden aufklären!

Ein ganz anderes Thema habe ich durch Alexander List kennengelernt, der sich mit der aktuellen Situation der Breitbandvernetzung in Österreich beschäftigte. Die Fakten hat er auch im Barcamp Wiki zusammensgestellt. Im Moment verhindern die Telcos in Österreich, dass die technischen Möglichkeiten für eine breitbandige Vernetzung aller Haushalte ausgenutzt werden, während es z.B. im Nachbarland Slowenien üblich ist, die Haushalte direkt an das Glasfasernetz anzuschließen. Alexander List war sich mit denjenigen unter den Zuhörern, die sich auf diesem Gebiet auskennen, darüber einig, dass ein massives Lobbying auf der Gemeindeebene das beste Mittel ist, um zu verhindern, dass Österreich hier noch weiter zurückfällt.

Mehr zum BarCamp in Klagenfurt u.a. hier: Barcamp Senza Confini, Teil 1 auf datenschmutz.net, mgratzer’s Blog » BarCamp Senza Confini Day 1, Jans Technik-Blog: Barcamps

Wie bildet man Journalisten so aus, dass sie ihre Fähigkeiten online vermarkten können? Mark Glaser hat zusammengestellt, was an amerikanischen J-Schools versucht wird, um angehende Journalisten auch zu Unternehmern auszubilden. Dazu hat er eine Reihe von Größen des amerikanischen Online-Journalismus befragt.

Zwei Statements Glasers, die ich für plakativ, aber bemerkenswert halte:

  1. Die journalistische Karriere heute beginnt oft nicht mehr mit dem Volontoriat in einer Redaktion, sondern mit der Selbstvermarktung als Blogger, Podcaster o.ä. (Das hängt nicht nur mit der aktuellen wirtschaftlichen Situation zusammen, sondern mit der Veränderung des Berufs der Journalistin und der journalistischen Produkte. Siehe dazu, gerade gestern, wie Peter Hogenkamp die Unterschiede in der Arbeitsweise eine Bloggernetzwerks und einer herkömmlichen Redaktion beschreibt.)

  2. Werbung muss bei Online-Publikationen als Inhalt verstanden werden. Sie funktioniert nur, wenn die Benutzerinnen sie wollen und sie einen eigenen Mehrwert hat. Wer publiziert, muss sie in sein redaktionelles (nicht nur wirtschaftliches) Konzept integrieren.

Im Herbst startet ein neuer internationaler Studiengang New Media Journalism. Träger sind sind das Masterprogramm Medien Leipzig an der Universität Leipzig, die Hamburger Akademie für Publizistik, das Kuratorium für Journalistenausbildung in Salzburg und die Schweizer Journalistenschule in Luzern. Ich wünsche den Kollegen alles Gute und hoffe, dass einige unserer Absolventen diesen — dringend nötigen — Ausbildungsgang besuchen werden.

Ich schreibe das nicht ohne Bitterkeit. An der Grazer FH Joanneum hat die SPÖ-geführte Landesregierung vor genau einem Jahr einen berufsbegleitenden Masterstudiengang Web Publishing und Digitale Kommunikation gestoppt — ohne Angaben von Gründen, ohne Diskussion und trotz nachgewiesenen Bedarfs in der Wirtschaft und bei potenziellen Studierenden. Wer aus der Steiermark kommt und sich für den Journalismus im Web ausbilden lassen möchte, wird sich jetzt wohl nach Salzburg und nicht nach Graz orientieren müssen. Die hiesige SPÖ — die zuletzt beim Grazer Kommunalwahlkampf demonstriert hat, dass sie Wörter wie Öffentlichkeit, Medien und Journalismus nicht buchstabieren will — hat auf den Vorsprung bei einem Zukunftsthema freiwillig verzichtet.