Contentstrategie ist eine Disziplin—so sagen es ihre Vertreter immer wieder. Was ist damit eigentlich gemeint? Konkret wohl vor allem, dass die Contentstrategie eine Disziplin ist wie das userzentrierte Design oder die Informationsdesign. Das bedeutet: Sie folgt Regeln, deren Sinn sich in der Praxis herausgestellt hat, sie lässt sich lehren und lernen, und vor allem: Sie hat ein Thema, eine übergreifende Problematik, die sich nicht mit den Themen anderer Disziplinen deckt. Contentstrategie lässt sich nicht durch Informationsarchitektur oder gar Webdesign ersetzen. Ihr Thema sind die Onlineinhalte einer Organisation als ein zusammenhängendes Ganzes. Man braucht Contentstrategie, wenn man diese Inhalte nicht nur als abhängig von etwas anderem (z.B. dem Marketing oder der PR) versteht, sondern als einen Bereich mit eigener Logik und eigenen Ansprüchen, mit denen am erfolgreichsten vorgebildete oder erfahrene Profis umgehen.
In Andrew Pickerings Buch The Mangle of Practice bin ich auf einen weiteren Sinn des Worts Disziplin gestoßen. Er steht nicht im Widerspruch zu unserem üblichen Verständnis, aber er vertieft es. Pickering spricht davon, dass Disziplin dazu dient, to capture agency, also sich, grob übersetzt, die Handlungskraft oder Aktionsfähigkeit von etwas zunutze zu machen, sie einzufangen. Maschinen machen sich, oder besser: uns die Aktionsfähigkeit von natürlichen Objekten zunutze. Ein Wasserrad macht es möglich, die Energie eines Flusses zu nutzen. Um Wasserräder erfolgreich zu bauen, braucht man Erfahrung, und man muss wissen, welchen natürlichen Gegebenheiten man sich anzupassen hat. Technik und Naturwissenschaft sind erfolgreich, weil sie auf Disziplin und damit auch auf Disziplinierung beruhen, auf trainierter und erzwungener Anpassung. Auch die digitale Zivilisation, so kann man das weiterdenken, braucht Disziplin, braucht enorme Anpassungsleistungen, um die Aktionsfähigkeit, die agency der digitalen Maschinen einzufangen, auf denen sie beruht. Wir vergessen diese Disziplinierung gerne, wenn wir technische Utopien verfechten. Aber alle Freiheiten, die uns z.B. soziale Medien verleihen, setze voraus, dass wir eine extrem komplexe Apparatur diszipliniert bedienen. Je näher uns die digitalen Maschinen kommen und je mehr sie uns möglich machen, desto mehr Disziplin und Anpassung setzen sie voraus.
Contentstrategie vergrößert die Handlungsfähigkeit von Organisationen, vor allem von Firmen. Sie fängt, um in der Metaphorik zu bleiben, die Handlungskraft der Organisation und der ihr zur Verfügung stehenden Technologien für das Online-Publizieren ein. Dazu erzwingt sie Disziplin, sie setzt Regeln durch und arbeitet daran, diese Disziplinierung immer effizienter zu machen. Contentstrategie steigert die Möglichkeiten einer Organisation, aber sie diszipliniert zugleich alle, die mit den Inhalten der Organisation zu tun haben. Contentstrategie ist eine Disziplin im Sinne einer disziplinierten Praxis. Ohne Contentstrategie schränken Organisationen ihre Handlungsfähigkeit, ihre agency ein. Der Preis der zusätzlichen Handlungsmöglichkeiten ist aber ein Verzicht auf Optionen.
Danke für den Artikel, er fasst die Diskussion zusammen und zeigt dadurch, dass Content-Strategie mehr ist als ein Trend, der Unternehmen nur Geld kostet und aus finanzieller Sicht nichts bringt (das höre ich derzeit am häufigsten)
Das klingt doch schon gut, und ich bin überzeugt, dass wir da noch etwas draufstehen können, wenn nicht müssen, in dem wir bei der Contentstrategie nicht nur die Onlineinhalte einer Organisation betrachten, sondern die Organisation als solche als Inhalt sehen. Mehr dazu im Juni 😉
Ich glaube auch, dass die Beziehungen zwischen Inhalt und Organisation der eigentliche Kern sind. (Dabei verstehe ich „Organisation“ im Sinne von Weicks „Prozess des Organisierens“.) Über die Formulierung „Organisation als Inhalt“ muss ich noch nachdenken …
Ich glaube, ich habe da etwas flapsig formuliert – was aber wiederum eine neue Idee geweckt hat. Mit der Organisation als Inhalt meinte ich eigentlich das, was eine Organisation oder ein Unternehmen tut, also seine Handlungen, seine Produkte, sein Wissen als Inhalt zu verstehen. Dazu würde dann – und da bin ich sehr dankbar für den Hinweis auf Weich – natürlich auch der Prozess des Organisierens gehören, der in sich wiederum auch als Inhalt zu verstehen ist. Meine Überlegungen gehen gerade in die Richtung, ob Content Strategy sich als missing link zwischen Corporate Strategy und Communications eignet, wobei mir noch nicht ganz klar ist, wie und ob sich dann von der klassischen Kommunikationsstrategie abgrenzen bzw. mit ihr verbinden ließe.
@Sascha: Schwierige Frage, an der ich auch knabbere. Einerseits: Eigentlich ist die Content Strategy Bestandteil der Kommunikationsstrategie, die wiederum die Ziele der Corporate Strategy unterstützt. Denn ich kann mir keine Content Strategy vorstellen, die sich nicht an Kommunikationszielen, an Stakeholdern etc. orientiert. Andererseits: Für Content Strategy kann man sicher auch ganz andere Bezugspunkte finden, beispielsweise Wissensmanagement, Lernen etc. Kommt einem fast wie ein Gel vor, das mal Zwischenräume füllt, mal aber auch gesammelt in Behältern als Treibstoff zur Verfügung steht. Ok, das Bild ist ungewohnt.
Thomas, Gel ist aber genau das „richtige“ Bild. Ich bin überzeugt, dass es möglich ist, Kommunikation im Unternehmens- und Organisationskontext nicht nur als Stabsstelle (UKom) oder Marketingfunktion (Promotion), sondern als Vernetzungsfunktion zu modellieren. Diese Vernetzung erfolgt über Content. Dessen strategische Betrachtung ist komplementär zur Corporate Communication, die ihrerseits in der Hauptsache dafür verantwortlich ist, die publizistische Oberfläche zu bereedern. Und das nicht nur Output, sondern auch Input orientiert, im Sinne eines ganzheitlichen Strategieprozesses, der sich wiederum auch auf die Content Strategie auswirkt. Und ja, jedesmal wenn man in diesem Bild etwas fixieren will, glitscht es einem weg. Das ist wohl so mit dem Netzwerk, und auch Luhmann war sich ja nicht so ganz sicher, mit welchem Kapitel er nun seine Bücher beginnen sollte 😉
Mir gefällt das Bild des Gels auch gut. Ich frage mich aber, ob man nicht in vielen Fällen die Inhalte einfach als Produkt oder Service verstehen kann. Sie gehören in die Markenstrategie eines Unternehmens, aber sie müssen einen eigenen Nutzen stiften. Eine Analogie: Open Source Software, die von Unternehmen aus unterschiedlichen Gründen publiziert wird. – Dabei konnte die Licence to operate, von du, Thomas, gesprochen hast, ein Hauptgrund dafür sein, Inhalte zu publizieren.
Danke für Euer Gedankenfutter, das hilft mir, weiterzuknabbern. Spontan: Die Licence to operate ist vermutlich ein spannender Player auch in diesem Zusammenhang. Da sie aber nicht allein Ergebnis von Kommunikation ist, sondern ein Motiv der Steuerung, muss ich mir über den Zusammenhang von Content und Handlung (auch i.S. von Verhalten) noch klarer werden. Unter anderem.
Spannender Ansatz, Open Source Software unter dieser Perspektive zu betrachten, wobei hier auch noch mal zwischen Open Source und freier Software zu unterscheiden wäre. Und ja, Inhalte sind – meines Erachtens zu häufig – Produkte bzw. Services des Marketings (und deshalb häufig banal). Im Unterschied dazu ist Open Source Software direktes Ergebnis der Kernkompetenzen des Anbieters.
Übertragen auf Content Strategie hieße das – und genau das wäre mein Ansatz -, die Frage zu stellen, welche Produkte, Services oder aber auch Wissen einer Unternehmung diese dem Markt zur Verfügung stellen kann, ohne ihr Kerngeschäft zu beschädigen. Wie ich das schon in der Google+ Gruppe geschrieben hatte: Die meisten Whitepaper, Fachartikel, Webinare, etc., die derzeit publiziert werden, sind nur Werbung in anderer Verkleidung. Produkte des Marketings, die in der Regel dem Publikum nicht helfen, dessen Probleme zu lösen bzw. Interessen zu bedienen.
Das gilt im Übrigen nicht nur für B2B, sondern auch im B2C. Die bekannten Cases wie Red Bull sind reale Handlungen, deren Inszenierung das Publikum begeistert. Ihre Relevanz entsteht durch die Nutzung.
Übertragen auf den B2B-Bereich heißt das, dass wir uns nicht mehr nur fragen müssen, wie das Marketing das Leistungsversprechen inszeniert, sondern wie die Kommunikation helfen kann, die reale Leistung der Unternehmung zu formatieren und damit den Experten sowohl in der Unternehmung als auch auf Seiten des Marktes (der Stakeholder) eine gemeinsame Basis zu bauen.
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