Anders Levermann hat in einem Interview in der letzten Woche festgestellt (Levermann 2020):
Einen Systemwandel können Leute gern fordern, dafür gibt’s auch legitime Gründe, aber das Klimaproblem müssen wir innerhalb der nächsten 30 Jahre lösen. In nur drei Jahrzehnten müssen wir die komplette Weltenergieversorgung umgebaut haben. Deshalb müssen wir sofort beginnen, wir können nicht auf den Systemwechsel warten. Nochmal: Das Klimaproblem ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Es muss und kann in diesem System gelöst werden.
Diese Aussage steht auf den ersten Blick in offenem Gegensatz zu einem Satz aus dem Schreiben, das Greta Thunberg, Luisa Neubauer und andere initiert und in der letzten Woche u.a. der deutschen Bundeskanzlerin übergeben haben (Charlie et al. 2020):
Es ist ebenso absurd wie es sich anhört, ein Wirtschaftssystem, das von Natur aus die Klimakrise anheizt, zur Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen „sanieren“ zu wollen. Unser gegenwärtiges System ist nicht „kaputt“ – das System tut genau das, was es tun soll und soll. Es kann nicht mehr „repariert“ werden. Wir brauchen ein neues System (Übers. H.W. mit Hilfe von https://www.deepl.com)
Wenn es utopisch ist, an eine Systemveränderung zu glauben, und zugleich gerade unser Wirtschaftssystem zu der ökologischen Katastrophe geführt hat, in der wir uns bereits befinden, scheint die Lage hoffnungslos: Wir können nur versuchen, individuell oder als privilegierte Gruppe so gut wie möglich zu überleben.
Für mich steckt hinter dieser Aporie ein falsches Verständnis von System. Das System, um das es in beiden Sätzen geht, ist das System des marktwirtschaftlichen Kapitalismus. Dieses System ist genau dafür entworfen worden, die Natur oder Umwelt so erfolgreich wie möglich auszubeuten und Überfluss für die menschliche Gesellschaft herzustellen, wo vor der Einführung dieses Systems prekäre Verhältnisse herrschten. Die Geschichte dieses Konzepts stellt Pierre Charbonnier schlüssig in Abondance et Liberté (Charbonnier 2020) dar. Der klassische Sozialismus, das wird bei Charbonnier deutlich, unterscheidet sich in seinem produktivistischen und extraktivistischen Verständnis der Beziehungen zwischen Gesellschaft und Umwelt nicht von dem, was Charbonnier die liberale Utopie nennt. Der Sozialismus hat sich nur als Weg empfohlen, möglichst viele an den Ergebnissen der Ausbeutung der Natur partizipieren zu lassen.
Es gibt dann noch eine Chance, die schlimmsten Folgen von globaler Erhitzung und Massenaussterben zu vermeiden, wenn es gelingt, dieses System zu kontrollieren, es also gesellschaftlich zu steuern. Einen solchen Ansatz versucht, wenn ich ihn richtig verstehe, Charbonnier auf einer philosophischen Ebene zu entwickeln. Es stützt sich dabei auf einen Autor, den ich erst durch Charbonniers Buch kennengelernt habe, auf Karl Polanyi. Karl Polanyi versteht Sozialismus nicht als die Ersetzung des Kapitalismus durch ein komplett anderes, z.B. planwirtschaftliches System. Für Polanyi ist vielmehr entscheidend, wie die Märkte reguliert werden. Die sich selbst überlassenen Märkte zerstören die Gesellschaft und damit sich selbst, etwa in der großen Wirtschaftskrise Ende der 20er Jahre. Die Zerstörung der Gesellschaft durch die Märkte kann nur verhindert werden, wenn die Gesellschaft die Märkte in den Griff bekommt—wie es unter sozialstaatlichen Voraussetzungen nach dem zweiten Weltkrieg in vielen Ländern der Fall war. Unter Sozialismus versteht Polanyi eine demokratische Regulierung der Märkte—im Gegensatz zu autoritären, faschistischen Regulierung der Märkte, die offenbar in den USA unter Trump aber auch in Ungarn und den verschiedenen rechtspopulistischen Strömungen in Europa in veränderter Form wieder aktuell geworden ist.
Im Turbokapitalismus der letzten 30 Jahre regulieren sich die Märkte wieder weitgehend selbst. Deutlich zeigen das die Finanzmärkte, die Globalisierung, die jeden Ort der Erde einem globalen Standortwettbewerb unterwirft, aber auch die digitale Wirtschaft, die weitgehend politisch unkontrolliert funktioniert. Die Global Commons wie die Atmosphäre und die biologische Diversität (aber auch z.B. ein offenes, freies Web und eine für alle zugängliche Forschung) werden von diesen sich selbst kontrollierenden Märkten und ihren Profiteuren bedroht.
Polanyi hielt es für nötig, die Arbeit, das Geld und den Boden den Marktgesetzen zu entziehen. Heute stehen sicher andere Forderungen im Mittelpunkt.Trotzdem bleibt das Prinzip der gesellschaftlichen Steuerung der Märkte aktuell und eignet sich für die Klimabewegung besser als Ausgangspunkt als das Konzept eines alternativen Systems, das im Augenblick kaum irgendwo praktisch relevant werden wird. Konkret muss die Klimabewegung auf allen Ebenen und angesichts der ökologischen Katastrophe mit dem größten möglichen Druck erzwingen, dass Märkte überall gesellschaftlicher Kontrolle unterworfen werden, wo sie Gemeingüter irreversibel zerstören—vom Autoverkehr in einer Kommune bis zum globalen CO2-Ausstoß, der weltweit gesteuert werden muss.