Ich habe schon öfter den Satz zitiert, dass Journalisten die Historiker des Augenblicks sind. Ich habe ihn zuerst bei Mercedes Bunz gelesen—leider weiss ich nicht mehr wo. Jetzt bin ich durch einen Tweet Wofgang Blaus darauf gekommen, dass dieser Satz von Albert Camus stammt. Allerdings ist die Formulierung bei Camus offenbar etwas anders. Camus schreibt im Combat (Camus, 2014, S. 119):

Qu’est-ce qu’un journaliste ? C’est un homme qui d’abord est censé avoir des idées. … C’est ensuite un homme qui se charge chaque jour de renseigner le public sur les événements de la veille. En somme, un historien au jour le jour — et son premier souci doit être de vérité.

Das heisst übersetzt:

Was ist ein Journalist? Zuallererst ein Mann, dem man zutraut, Ideen zu haben. … Dann ist es ein Mann, der es sich jeden Tag zur Aufgabe macht, das Publikum über die Ereignisse des Vortags zu informieren. Zusammengefasst, ein Historiker der laufenden Ereignisse – und seine erste Sorge muss die Wahrheit sein.

(Übersetzung von mir. Ich verwende Journalist in der männlichen Form und übersetze hier ein Mann, weil Camus nur von Männern spricht, was ich damit nicht als selbstverständlich voraussetzen will.)

Das Wichtigste an dieser Aussage ist, dass es im Journalismus um Wahrheit geht, und dass der Wahrheitsanspruch an Journalistinnen und Journalisten derselbe ist wie an Historikerinnen und an Historiker. Camus selbst denkt bei dem Wort Historiker an die römischen Geschichtsschreiber, vor allem wohl an das sine ira et studio von Tacitus (er spricht von uns römischen Historikern, die die Objektivität schätzen: Nous autres, historiens romains, nous avons le goût de l’objectivité (Camus, 2014, S. 329)).

Camus meint damit nicht, dass im Journalismus nur das wiedergegeben wird, was andere über Ereignisse sagen. Deshalb können sich Journalistinnen und Journalisten auf ihn berufen, die kritischen Klimajournalismus fordern und betreiben, die also Aussagen aus Politik und Wirtschaft bewerten und aufdecken, dass sie dem wissenschaftlichen Stand widersprechen. Genau das, was oft als Aktivismus verurteilt wird, nämlich das Engagement gegen eine interessengeleitete Vernebelung von Tatsachen, ist die Aufgabe von journalistisch Arbeitenden. Camus selbst spricht von kritischem Journalismus, angesichts der ungeordneten Kräfte der Geschichte, deren Reflex die Informationen sind (S. 129):

Einerseits können Journalisten helfen, die Nachrichten zu verstehen, indem sie eine Reihe von Bemerkungen machen, die den Informationen, deren Quelle und Absicht nicht immer klar sind, die richtige Bedeutung geben. Sie können z. B. widersprüchliche Berichte in ihrem Layout zusammenstellen und sie so zweifelfhaft werden lassen. Sie können die Öffentlichkeit über die Wahrscheinlichkeit informieren, die einer bestimmten Information beizumessen ist, wenn man weiß, dass sie von einer bestimmten Agentur oder einem Amt im Ausland stammt.

Original:

D’une part, le journaliste peut aider à la compréhension des nouvelles par un ensemble de remarques qui donnent leur portée exacte à des informations dont ni la source ni l’intention ne sont toujours évidentes. Il peut, par exemple, rapprocher dans sa mise en page des dépêches qui se contredisent, et les mettre en doute l’une par l’autre. Il peut éclairer le public sur la probabilité qu’il est convenable d’attacher à telle information, sachant qu’elle émane de telle agence ou de tel bureau à l’étranger.

Wichtig ist vor allem Aufklärung darüber, wie Informationen zustande kommen—hier formuliert Camus sehr modern:

Diese direkte Kritik im Text und in den Quellen könnte der Journalist durch möglichst klare und präzise Aussagen ergänzen, die die Öffentlichkeit über die Informationstechnik auf den neuesten Stand bringen würden.

À cette critique directe, dans le texte et dans les sources, le journaliste pourrait ajouter des exposés aussi clairs et aussi précis que possible qui mettraient le public au fait de la technique d’information.

Diesen Gedanken der Verwandtschaft von Journalismus und Geschichtsschreibung kann man denen entgegenhalten, die kritischem Journalismus Aktivismus vorwerfen. Kritischer Journalismus bewertet Informationen und Quellen im Interesse von nachprüfbaren Aussagen über die Gegenwartsgeschichte. Wenn z.B. die Programme fast aller deutschen Parteien nach Einschätzung von kompetenten Fachleuten nicht dazu ausreichen, die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen, dann gehört diese Information in die Berichterstattung, und zwar nicht nur als Meinung oder Ansicht, sondern als mit hoher Wahrscheinlichkeit zutreffende Bewertung der Programme. Zur Information über die laufenden Ereignisse gehören nicht nur die Zusammenfassungen der Parteiprogramme, sondern auch die Darstellung des Verlaufs der Klimakatastrophe und des Missverhältnisses zwischen diesem Verlauf und den Programmen. Das ist noch kein Aktivismus—außer man bezeichnet kritischen Journalismus als Aktivismus—aber eine Voraussetzung für faktenbasierten Aktivismus und faktenbasierte Politik.

Camus fordert einen wahrheitsorientierten, aber nicht einen unparteiischen Journalismus. Das Interesse an der Wahrheit ist bereits eine Parteinahme—nämlich gegen die, die vom Verbergen der Wahrheit profitieren.

Die Wahrheit hochzuschätzen hindert nicht daran, Partei zu ergreifen. Für die, die zu verstehen beginnen, was wir in dieser Zeitung zu tun versuchen, fordern sie sich sogar gegenseitig. (S. 129)

Original:

Certes, le goût de la vérité n’empêche pas la prise de parti. Et même, si l’on a commencé de comprendre ce que nous essayons de faire dans ce journal, l’un ne s’entend pas sans l’autre

Aus der Parteinahme ergeben sich offenbar die Ideen, die Journalinnen und Journalisten zuallererst haben müssen, sie speist Kommentare, Kritik und Interpretationen, ohne die sich die historische Wahrheit nicht herausfinden lässt. Zugleich fordert der goût de la vérité (wörtlich: Geschmack (an) der Wahrheit), die eigene Position zu relativieren und sich selbst gegenüber nicht weniger kritisch zu sein als gegenüber anderen.

Ein Journalist, der sich beim erneuten Lesen seines veröffentlichten Artikels nicht fragt, ob er Recht oder Unrecht hatte, der in diesem Moment keine Zweifel oder Skrupel hat, und der an manchen Abenden nicht daran verzweifelt, der absurden und notwendigen Arbeit, die er während der ganzen Woche verrichtet, gewachsen zu sein, ein Journalist, der sich nicht jeden Tag selbst beurteilt, ist dieses Berufs nicht würdig…

Original:

Un journaliste qui, relisant son article publié, ne se demande pas s’il a eu raison ou tort, qui ne connaît à ce moment ni doute ni scrupule, et qui, certains soirs, ne désespère pas d’être à la hauteur de ce travail absurde et nécessaire qu’il poursuit au long des semaines, un journaliste enfin qui ne se juge pas lui-même tous les jours n’est pas digne de ce métier …

Es gibt viele Gründe dafür, sich heute, nach dem Beginn der Klimakatastrophe mit Albert Camus zu beschäftigen. Sein Konzept des Journalismus ist einer der wichtigsten. Besser lassen sich die Argumente gegen den absurden Vorwurf, dass Journalistinnen und Journalisten, die sich an der Wahrheit orientieren, ihren Beruf verfehlen, nicht formulieren.

Camus, A. (2014). À “Combat” Éditoriaux et articles, 1944-1947 (J. Lévi-Valensi, Ed.; Version Epub). Gallimard.

3 Kommentare zu “Warum der Aktivismusvorwurf gegen guten Klimajournalismus nicht stimmt: Journalismus als Geschichtsschreibung bei Albert Camus

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.