Ich beschäftige mich gerade mit dem Buch The Reflective Practitioner von Donald Schön. Ich schreibe mit meiner Kollegin Jutta Pauschenwein einen Artikel über das Lernen in unserem Studiengang, und bin jetzt endlich dazu gekommen, Schöns Buch ganz zu lesen.
Um zu erklären, warum mich dieses Buch so interessiert, sage ich vielleicht am besten, welche Frage es für mich beantwortet: Was für eine Art von Wissensvermittlung betreiben wir in dem Content-Strategie-Studiengang, in dem ich arbeite, und auch darüber hinaus in der Hochschule, in der ich tätig bin? Die FH Joanneum, an der ich arbeite, nennt sich auf Englisch University of Applied Sciences. In meiner konkreten Tätigkeit habe ich nicht den Eindruck, dass wir tatsächlich wissenschaftlich arbeiten, und auch nicht, dass wir eine Wissenschaft unterrichten, die dann, wenn man sie verstanden hat, angewandt wird. Was wir tun, entspricht viel eher der Arbeit von Designern als von Wissenschaftlern.
Andererseits gehen wir analytisch vor, und wir verwenden durchaus wissenschaftliche Methoden, z.b. aus der qualitativen und quantitativen empirischen Sozialforschung. Wir bemühen uns, datengestützt vorzugehen, und unsere ganze Arbeit ist darauf ausgerichtet, das, was Content-Strategen tun, diskutierbar und kritisierbar zu machen. Wir unterrichten also Content-Strategie als eine rationale Praxis.
Schön hat das Konzept des reflective practitioner entwickelt. Dieses Konzept entspricht dem, was Content-Strategen in der Praxis tun, sehr genau. Der reflective practitioner löst in seiner Arbeit Probleme, und er ist dabei vor allem forschend unterwegs. Er beantwortet Fragen, deren Rahmen er zu Anfang selbst festlegen muss, wobei er die Situation, in der er arbeitet, klärt. Er verwendet Vorbilder, Lösungen, die er in seiner eigenen Praxis oder durch Lernen von anderen kennengelernt hat. Er kommt zu einem Ergebnis, bei dem er eine Situation als etwas erkennt, also z.b. als etwas, das einer anderen Situation verwandt ist. Und nachdem er die Situation als etwas erkannt hat, entwickelt er eine entsprechende Lösung, oft in Kooperation mit anderen, mit denen er über seine Erkenntnisse kommuniziert.
Entscheidend dabei ist, dass er forschend und experimentierend vorgeht, dass er also Fragen stellt und Interventionen vornimmt, durch die er Antworten erhält, die er nicht vorwegnehmen kann. Schön spricht von moves, von Aktionen, deren Ergebnis zeigt, ob eine Annahme des Praktikers richtig oder falsch war. Diese moves werden, das entspricht dem experimentellen Vorgehen, in einem Medium vorgenommen, das die reale Situation so abbildet, dass sie begreifbar wird. Dieses Medium ist beim Architekten die Zeichnung, beim Psychotherapeuten das Storytelling.
Die Arbeit des reflektierenden Praktikers ist also kognitiv und experimentell, sie ist rational und beschreibbar , sie folgt aber einen ganz anderen Muster als dem der Anwendung eines Wissens, das vorher schon bekannt wäre. Sie ist immer abhängig von dem framing einer Situation, das ein wichtiger Bestandteil der Arbeit des Praktiker ist, und sie ist bezogen auf eine praktisch produzierbare Lösung. Wenn diese Lösung erreicht wird, findet die Arbeit, anders als die eines Wissenschaftlers, ihren Abschluss.
Die Situation, mit der sich ein reflektierender Praktiker beschäftigt, ist immer ein Einzelfall und lässt sich nicht von vorneherein und möglicherweise nie als Spezialfall von allgemeineren Regelmäßigkeiten erkennen. Ein wichtiger Teil der Forschung, der research oder inquiry, des reflektierenden Praktikers besteht eben deshalb darin, das framing vorzunehmen, in dem dann die moves, die Spielzüge möglich sind, durch die Einzelheiten der Situation erkennbar werden. Weil dieses anfängliche Framing notwendig ist, und weil das Framing und die Antworten, die im Laufe der Praxis gegeben werden, aufeinander bezogen sind, lässt sich die reflektierende Praxis nicht nach dem Schema der Anwendung von Regeln auf einen bestimmten Einzelfall beschreiben.
In der Arbeit von Content-Strateginnen und Content-Strategen und ganz konkret in den vielen Projekten, die unsere Studierenden inzwischen durchgeführt oder teilweise durchgeführt haben, lässt sich dieses Vorgehen immer wieder erkennen. Die anfängliche Analysephase, zu der im Fall der Content-Strategie vor allem ein quantitativer und qualitativer Content Audit gehört, aber auch eine Analyse der Stakeholder, entspricht dem Framing, mit dem die Arbeit des reflektierenden Praktikers beginnt, wobei dieses Framing im Fortschritt der Arbeit wiederum revidiert oder modifiziert werden kann. Die dann folgenden Analysen, z.b. zur Definition von Personas, von User Journeys und ähnlichem, entsprechen den vielen Zügen, den moves, von denen Schön spricht. Als moves lassen sich auch Schritte wie die Definition einer Botschaftsarchitektur oder das content modeling beschrieben, das zu einer Content-Strategie in der Regel gehört. In dieser Arbeit wird die Ausgangssituation, wie Schön sagt, als etwas verstanden, und dieses etwas als etwas sehen ist genau das, was in der Content-Strategie eben Strategie heißt. Es wird in der Content Strategie in der Regel im sogenannten core strategy statement ausgedrückt. Kristina Halvorsons Bild vom Bären, dessen Strategie darin besteht an den Fluss zu gehen, um Lachse zu fangen (der also seine Umwelt als eine Landschaft versteht, in der es unten am Fluss Nahrung zu holen gibt), drückt das gut aus. Darauf folgt dann die Taktik, es folgen die moves, mit denen der Bär am Fluss die Lachse fängt, wenn er ihre Bewegungen richtig vorausberechnet.
Schöns Konzept des reflective practitioner eignet sich auch deshalb gut dazu, Content-Strategie als Praxis zu beschreiben, weil es in den Rahmen einer allgemeinen Theorie der professions, der wissensbasierten Berufe, eingebettet ist. Für Schön entstehen in einer zunehmend wissensbasierten Wirtschaft immer neue professions, und augenscheinlich entwickelt sich die Beschäftigung mit Inhalten in einer digitalisierten Umgebung gerade zu einem eigenen Beruf. Man kann darüber diskutieren, ob das Konzept der voneinander deutlich unterscheidbaren Berufe, von dem Schön ausgeht, einer vernetzten Realität entspricht, in der agile Teams mit flexiblen Kompetenzprofilen arbeiten. Das ändert aber nichts daran, dass es unterschiedliche Praktiken gibt, zu denen jeweils eigene Kompetenzen und Research-Verfahren gehören.
Schöns antipositivistischer Ansatz erfasst gut, was wir unterrichten, und er enthält auch viele Ansatzpunkte dafür, wie wir unterrichten sollten. Zum Teil haben wir uns didaktisch bereits an Konzepten orientiert, die zumindest nicht im Widerspruch zu der Vorstellung untersuchender Praxis stehen, die Schön entwickelt. Wenn wir uns klarer als bisher machen, was diese Praxis von der einer angewandten Wissenschaft unterscheidet, können wir unsere didaktische Arbeit noch deutlich verbessern.
Eine ganz andere Frage ist, ob Schöns Gegenüberstellung von reflective practice und Wissenschaft tragfähig ist, oder ob nicht die wissenschaftliche Arbeit selbst viel eher dem Bild des reflective practitioner entspricht als dem positivistischen Modell des Wissenschaftlers der nackte Fakten analysiert und zu verallgemeinernden Aussagen kommt. Schön selbst beschäftigt sich bereits mit der wissenschaftlichen Praxis und Autoren wie Michael Lynch und Bruno Latour haben herausgearbeitet, wie sehr Wissenschaft und Alltagspraxis miteinander verwandt sind. Aber ganz unabhängig davon glaube ich, dass wir gut daran tun Content-Strategie und vielleicht auch andere der Themen, die wir unterrichten, z.b. Journalismus, als reflective practice zu verstehen statt als angewandte Wissenschaft.
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