Morgen beginnt in Darmstadt wieder das Content Strategy Camp. Ich kann in diesem Jahr leider nicht teilnehmen. Die folgenden Thesen hätte ich dort sonst in einer Session vorgestellt. Sie sind auch als ein Beitrag unseres Studiengangs zum Global Climate Strike gedacht (wobei ich für den Inhalt allein verantwortlich bin). Ich habe mich selbst entschlossen, mich in der Lehre auf die möglichen Beiträge der Content-Strategie zu einer Postwachstums-Gesellschaft zu konzentrieren und in unserer Ausbildung alles zu unterlassen, was Unternehmen unterstützt oder unterstützen könnte, deren Tätigkeit die ökologische Situation weiter verschlimmert.

  1. Klimanotstand und Artensterben betreffen auch die Content-Strategie, denn Content, der zu ihnen beiträgt, kann nicht nützlich und nutzbar (Halvorson & Rach, 2012, S.31) sein.
  2. Content-Strategie, so wie sie betrieben und unterrichtet wird, ist eng mit den Strategien von Unternehmen in einer Wirtschaft verknüpft, die auf materielles Wachstum ausgerichtet ist. Diese Wirtschaftsform ist die Ursache für die ökologischen Katastrophen der Gegenwart.
  3. Nur eine tiefgreifende Transformation der Wirtschaft und der Gesellschaft kann den ökologischen Kollaps noch verhindern. Die Disziplin der Content-Strategie muss sich mit ihrer Rolle in und (hoffentlich) nach dieser Transformation beschäftigen—im Interesse der Zukunft ihrer Nutzerinnen und Nutzer, aber auch ihrer eigenen Zukunft.
  4. Content-Strategie muss sich der Tatsache stellen, dass die Verbreitung von Inhalten heute eng an die Werbung für ständig wachsenden Konsum verbunden ist, insbesondere durch werbefinanzierte Plattformen. Sie muss ihre Marketing-Abhängigkeit radikal in Frage stellen.
  5. Dem Anspruch, die Bedingungen für nützliche und nutzbare Inhalte zu schaffen, wird Content-Strategie nur da gerecht, wo sie zum Erfolg von Organisationen beiträgt, die ohne einen ökologisch schädlichen Ressourcenverbrauch auskommen oder aktiv eine Wirtschaft innerhalb der planetary boundaries (Steffen et al., 2015) herbeiführen.
  6. In einer digitalen Kreislauf- oder Postwachstums-Wirtschaft (Post Carbon Society) wird Content eine Schlüsselrolle haben, weil alle Formen der Kooperation in einer solchen Wirtschaft auf Content angewiesen sind. In einer solchen Wirtschaft und ihren jetzt schon möglichen Vorformen soll Content nicht den Verbrauch von materiellen Objekten fördern sondern deren gemeinsame Nutzung.
  7. In einer Post Carbon Society wird eine Vielzahl neuer Dienstleistungen entstehen—siehe dazu zum Beispiel Tim Jacksons Konzept des enterprise as service (Jackson, 2016) und die Konzepte der führenden österreichischen Klimawissenschaftlerinnen und Klimawissenschaftler für ein Österreich ohne fossile Brennstoffe (Kirchengast et al., 2019). Es werden komplexe und dezentrale Service-Architekturen nötig sein, um Ressourcen in Bereichen wie Energie und Mobilität kooperativ zu nutzen und zu administrieren. Content-Strategie kann sich als ein Teil des Service-Designs für solche Dienstleistungen definieren.
  8. In einer Post Carbon Society sind Organisationen und Unternehmen für die ökologischen Folgen ihres Handelns verantwortlich und müssen sie mit anderen Stakeholdern koordinieren (während die Marktwirtschaft auf den Markt als wichtigstes Instrument zur Regulierung der Folgen ökonomischen Handelns vertraut). Sie benötigen Content, um ihr Agieren für die übrigen Akteure verständlich und anschlussfähig zu machen.
  9. In einer Post Carbon Society sind Investitionen eine Form des Engagements für Aktivitäten mit einem überschaubaren und lokalen Nutzen. Um diese Art von Investitionen anzuziehen, werden Unternehmen vor allem Content benötigen.
  10. Die aktuellen Modelle der Nutzung von Inhalten (und damit verbunden oft auch die Modelle der Inhalte selbst) sind weitgehend auf passiven Konsum von Inhalten ausgerichtet. Inhalt unterscheidet sich in diesen Modellen nicht grundsätzlich von anderen passiv konsumierten Objekten, die momentane Ansprüche isolierter Konsumentinnen und Konsumenten befriedigen sollen. In einer Post Carbon Society müssen sich auch andere Modelle des Umgangs mit Inhalten entwickeln, wenn die Angehörigen einer solchen Gesellschaft sich nicht mehr vor allem durch Konsum definieren.

PS: Diese Thesen ergeben sich für mich aus einer Kritik der Wachstums-Ökonomie, die ich in Zehn Thesen zum Klimanotstand formuliert habe. Eine kurze Präsentation über Content-Strategie und Postwachstum habe ich hier publiziert und hier erläutert. Ich wünsche mir, in meiner pessimistischen Einschätzung der gegenwärtigen ökologischen Situation Unrecht zu haben—leider spricht aber jede neue wissenschaftliche Erkenntnis zur globalen Erhitzung dafür, dass Panik mehr als angebracht ist.

Literatur:

Halvorson, K., & Rach, M. (2012). Content strategy for the Web (2nd ed.). Retrieved from http://www.amazon.com/Content-Strategy-Web-Kristina-Halvorson/dp/0321808304

Jackson, T. (2016). Prosperity without growth: Economics for a finite planet (2nd ed.). https://doi.org/https://doi.org/10.4324/9781315677453

Kirchengast, G., Kromp-Kolb, H., Steininger, K., Stagl., S., Kirchner, M., Ambach, C., … Strunk, B. (2019). Referenzplan als Grundlage für einen wissenschaftlich fundierten und mit den Pariser Klimazielen in Einklang stehenden Nationalen Energie- und Klimaplan für Österreich (Ref-NEKP). Retrieved from https://ccca.ac.at/wissenstransfer/uninetz-sdg-13-1

Steffen, W., Richardson, K., Rockstrom, J., Cornell, S. E., Fetzer, I., Bennett, E. M., … Sorlin, S. (2015). Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet. Science, 347(6223), 1259855–1259855. https://doi.org/10.1126/science.1259855

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