Cover des Liber amicorum für Kurt Flecker

Den folgenden Text habe ich für das Liber Amicorum verfasst, das Kurt Flecker am 18. Jänner 2018 als Geschenk zu seinem 70. Geburtstag erhalten hat. Ich freue mich sehr und bin stolz darauf, dass ich an diesem Buch mitschreiben durfte. In unserer düsterer werdenden politischen Situation fehlen Leute mit der Haltung, der Konsequenz und der Intelligenz Fleckers.


Vielleicht wundern sich einige darüber, dass ich über ein Thema schreibe, das wenig mit dem Web und digitalen Medien zu tun hat. Mich interessiert hier wie dort anfassbare und angreifbare öffentliche Kommunikation. 1


Lange bevor ich in Graz lebte, habe ich es aus der Ferne als eine Stadt der Avantgarde-Kunst und -Literatur wahrgenommen, als einen wilden und ein wenig geheimnisvollen Ort, an dem alles anders, freier und spontaner ist als in der langweiligen Bundesrepublik Deutschland, in der ich großgeworden bin.
Als ich dann tatsächlich nach Graz gezogen bin, eher zufällig und beruflich bedingt, habe ich gemerkt, dass viele Grazer ihre Stadt ganz anders wahrnehmen, als einen eher zurückgebliebenen Ort in Randlage. Immer wieder höre ich sogar, dass erst das Jahr 2003, als Graz Kulturhauptstadt wurde, zu einer Öffnung geführt habe. Trotzdem: Überall stößt man in Graz auf Spuren der experimentellen Traditionen, die lange vor 2003 begonnen haben, und die durch die Marketing-Besessenheit seitdem nicht verwischt wurden.
Dieser experimentelle Geist hat in Graz auch überlebt, weil aufgeklärte Politiker an öffentlicher Kultur interessiert waren, nicht nur an Öffentlichkeitsarbeit. Ich habe Kurt Flecker in seiner Zeit als aktiver Landespolitiker kaum persönlich kennengelernt. Ich habe ihn aber bei öffentlichen Auftritten als einen Intellektuellen wahrgenommen, der nicht zwischen Politik und öffentlicher Debatte trennt, der Positionen explizit formuliert, aber seine Statements nicht aus einer Gesinnung ableitet.
Diese Haltung ist, um einen der Ausdrücke aus seiner Selbstcharakterisierung zu verwenden, fordernd. Graz ist für mich eine Kulturstadt, weil ich hier Kunst erfahren kann, die fordert, die nicht, wie das Aufsteirern, eine kollektive Ersatzidylle herstellt. Leute wie Flecker haben Räume geöffnet und offen gehalten, in denen experimentelle, offene Kunst ihre Forderungen stellen kann.
Zeitgenössische Kunst enttäuscht oft die Erwartungen, etwas Schönes zu erleben, mit denen auch heute noch Massen in Museen strömen oder Kultururlaube verbringen. Sie bleibt deshalb unbeliebt. Ich hätte selbst früher den Ausdruck schön gar nicht in Verbindung mit neuer, interessanter Kunst verwendet. Die Ausstellungen, die ich hier in Graz in den vergangenen Jahren besucht habe, waren für mich aber immer wieder ein Anlass, darüber nachzudenken, was der Ausdruck schön in Verbindung mit aktueller Kunst bedeuten kann. Vor allem zwei Ausstellungen, eine im Künstlerhaus, Halle für Kunst & Medien, eine im Kunstverein < rotor >, haben mir die Auge für Formen künstlerischer Arbeit geöffnet, die ich vorher kaum verstanden habe: queer art und Kunst als direkte soziale Intervention. In beiden ist Schönheit nicht eine Qualität von Artefakten, die man bewundert, sondern öffentliche Provokation und Herausforderung.
In seiner Zeit als Kulturlandesrat hat Kurt Flecker Avantgarde-Kunst und den öffentlichen-Kurs intensiv gefördert. Um Flecker zu gratulieren, versuche ich deshalb zu formulieren, was mir bei diesen beiden Ausstellungsbesuchen aufgegangen ist.

k8 Hardy und Queer Art

2015 wurde im Künstlerhaus die New Yorker Künstlerin K8 HARDY präsentiert. In ihren Videos und Installationen ging es um die Wahrnehmung des Körpers und seiner Kostümierungen und Verhüllungen in der Gegenwart, vor allem in der Mode. k8 Hardy ist eine Nachfolgerin der Pop Art, sie spielt ironisch mit Stereotypen des aktuellen Designs, denunziert sie aber nicht moralisierend. Zugleich ist sie eine Protagonistin einer queer-feministischen Kunst, eines Ansatzes, der mir völlig unzugänglich war, bevor ich diese Ausstellung besucht habe. Ganz einfach gesagt: Mir war nicht klar, welche künstlerische Bedeutung es hat, ob jemand homo-, hetero- oder bisexuell ist. In der Ausstellung ist mir aufgegangen, dass k8 Hardy mit Idealbildern des Körpers spielt, dass sie Körper und Körperlichkeit im Verhältnis zu solchen Idealbildern inszeniert und damit beide öffentlich erfahrbar und reflektierbar macht.
Dabei handelt es sich eigentlich um eine klassische Thematik der Bildhauerei: den öffentlich sichtbaren idealen menschlichen Körper. Ich dachte im Künstlerhaus zwischen den Objekten k8 Hardys an eine Ausstellung über griechische Klassik im Berliner Gropiusbau, in der gezeigt wurde, wie in der antiken griechischen Skulptur ein Idealbild, ein Kanon, verwirklicht und zugleich auf die Probe gestellt wird. Die idealen Körper werden nicht kultisch verehrt, sondern ästhetisch wahrgenommen. Was schön ist und ob ein Körper schön ist, kann öffentlich diskutiert werden.
Bei k8 Hardy gehören Männlichkeit und Weiblichkeit in ein Spektrum, die Differenz von Männlickeit und Weiblichkeit ist nicht eine Voraussetzung ästhetischer Ideale des Körpers. Dieser queere Zugang ist nicht etwas weniger Relevantes als die eigentlichen Themen der Kunst oder Ästhetik, er hängt mit der Thematik des öffentliche Idealbilds des Körpers direkt zusammen, sobald nicht einfach vorausgesetzt wird, was männliche oder weibliche Körper sind. Einen künstlerischen Anspruch hat diese Inszenierung dadurch, dass die Idealbilder und der Abstand zwischen aktueller Realität und Idealbildern als künstliche, gemachte Variablen dargestellt werden, die reflektiert, diskutiert und verändert werden können.
In der künstlerischen Praxis werden Elemente von öffentlichen Idealbildern, von Ikonen, als konkrete, lokalisierte Objekte bearbeitet, variiert, destruiert und rekombiniert. Damit werden die Idealbilder selbst zu einem Thema der Öffentlichkeit, nicht nur durch theoretische Diskussion, sondern durch gemeinsame körperliche, sinnliche Erfahrung im öffentlichen Raum. Die queere Ästhetik ist ein Zugang zu der alten ästhetischen Problematik der Wahrnehmung von Idealen im Schönen und in der Kunst.

Slaven Tolj und Kunst als soziale Intervention

Die k8 Hardy-Ausstellung im Künstlerhaus hat mir einen Weg zur Queer Art und zum Verständnis von Kunst als Thematisierung von gesellschaftlichen Idealbildern geöffnet. In der Ausstellung Slaven Tolj hat damals bei einem Rundgang im Rahmen der Galerientage verschiedene Grazer Ausstellungen besucht und im < rotor > begonnen. Er hat dabei ein Projekt hervorgehoben, bei dem tschechische Künstler sich mit der Situation der Roma in Ustí nad Labem beschäftigten. Ziel dieses Projekts war es, dass die Betroffenen selbst ihre Situation als marginalisierte und ausgeschlossene Minderheit darstellen und verändern.
Vor diesem Besuch ist mir nicht klar gewesen, was den künstlerischen Charakter einer solchen Aktion ausmacht, was sie von anderen Initiativen zur Verbesserung der Situation bestimmter Gruppen unterscheidet — unabhängig davon, dass diese Initiativen berechtigt sind. Durch Toljs Einführung in das Projekt wurde mir klar, warum die reale Verbesserung von sozialen Situationen zu einer Form künstlerischer Arbeit wird, nachdem die gelungene Abbildung von Objekten künstlerisch irrelevant geworden ist.
Die Moderne hat mit der retinalen Kunst gebrochen, die das Vorgegebene nur darstellt. Die bloße Beherrschung von Mitteln wurde zu einer commodity. Konzepte begründen den künstlerischen Anspruch, wie es in der Concept Art Programm geworden ist. Das Projekt in Tschechien beruht auf einem Konzept gelingenden Zusammenlebens, guten Lebens, und der Erfahrung von Wegen dorthin. Künstlerisch fordernd ist ein solches Projekt in seiner Ausstellbarkeit, in seinem Anspruch an Öffentlichkeit. Wenn sich die Kunst vom Artefakt und der handwerklichen Qualität des Artefakts verabschiedet, verlagert sie sich in die Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung. Öffentliche Räume und öffentliche Fokussierung, ihre Grenzen und die Überschreitung dieser Grenzen, werden zum Thema der künstlerischen Praxis.

Zeitgenössische Kunst als Forderung

Bei diesen beiden Ausstellungen habe ich etwas über Beziehungen zwischen künstlerischer Praxis, Öffentlichkeit und Schönheit als Wahrnehmung von Idealzuständen und des Abstands zu ihnen gelernt. Ich habe etwas darüber erfahren, wie Öffentlichkeit durch künstlerische Verfahren wahrnehmbar und diskutierbar wird. Die ästhetische, künstlerische Wahrnehmung ist ein Teil der demokratischen Reflexion öffentlichen Handels. Sie ist an Orte gebunden und auf Orte bezogen, auch wenn sie heute immer zugleich vernetzt und mit anderen Punkten auf der Welt verbunden stattfindet.
Kunst, wie sie in diesen beiden Ausstellung im Künstlerhaus und im < rotor > gezeigt wird, fordert. Sie bricht mit dem Vorverständnis darüber, was schön ist, und mit Konventionen über die Grenzen und Themen der Öffentlichkeit. Dazu braucht sie Räume oder Zonen, in denen sich die Normen und der Fokus der öffentlichen Wahrnehmung verschieben und diskutieren lassen. In einer Stadt wie Graz bilden solche Zonen den Kern des kulturellen Lebens, auch wenn sie nur von wenigen regelmäßig besucht werden. Wir brauchen politische Vertreterinnen und Vertreter, die solche Räume offen halten. Sonst werden uns alte und neue geschlossene Gemeinschaften, ihre Fiktionen und Fetische aufgezwungen.


  1. Dank an meine Kollegin Tanja Gassler für redaktionelle Hinweise und für ihr Engagement für die Grazer Galerientage