Wenn man Ted Nelson fast nur indirekt kennt — als Erfinder des Ausdrucks Hypertext
und als Sonderling, der nicht verwunden hat, dass das WWW viel primitiver ist als das von Nelson konzipierte System — ist man von Nelsons neuem Buch überrascht: Nelson weist zwar auch auf sich und seine Leistungen hin, aber nur sehr zurückhaltend und nicht im Detail. Wenn ich es nicht übersehen habe, ist z.B. von Transklusionen nur einmal die Rede. (Transklusionen gehören wie bidirektionale Links zum Hypertext im Sinne Nelsons.)
Nelson will in diesem Buch nicht seine eigenen Theorien vorstellen, sondern er will zeigen, dass die Computerwelt, wie wir sie kennen — vom PC auf dem Schreibtisch bis zum WWW — historisch geworden ist, überall auf Entscheidungen zurückgeht, die oft politisch oder wirtschaftlich motiviert waren, und dass sie deshalb auch nur historisch zu erklären ist. Nelson schreibt witzig und für ein breites Publikum; sein Buch ist eine gute Einführung in die Geschichte des Computing. Schwierige Konzepte versucht er nicht populär zu erklären, sondern er weist nur auf sie hin. Die Leserin oder der Leser soll erkennen, dass nichts von dem, was uns heute im Computing selbstverständlich erscheint, natürlich und technisch notwendig ist; alles hätte auch anders kommen können, und auch heute ist die Zukunft offen.
Die Geschichte, die Nelson erzählt, beginnt mit der Einführung von Hierarchien:
Hierarchy is the official metaphysic of the computer world.
Die karolingische Minuskel (mit der Nelson die Einführung von URLs durch Tim Berners-Lee vergleicht) spielt in ihr eine ebenso wichtige Rolle wie die Erfindung von Satzzeichen und Lochkarten. Die Kapitelzählung beginnt im negativen Bereich mit dem Kapitel -27; erst mit Unix und dem Jahr 1970 ist das Kapitel 1 erreicht: Unix ist die Basis des heutigen Computing und des Internets. (Für Nelsons Xanadu ist das Kapitel -11 reserviert.) Mit Social Networks und Second Life ist im Kapitel 20 die Gegenwart erreicht: Auch bei ihnen handelt es sich, wie bei allen Schritten vor ihnen, um Konstrukte, nicht um quasi natürliche Realitäten.
Für mich hat Nelsons Methode etwas Nietzscheanisches: Er erzählt eine Genealogie, so wie Nietzsche die Genealogie der Moral erzählt hat. Erzählt wird von Phänomenen, denen sich nicht einfach ausweichen lässt, die man aber verdrehen, ironisieren und subvertieren kann, mit einer gaya scienza, die bei Nelson eine unfeierlich-nerdige Gestalt annimmt.
Den eigentlichen Reiz des Buchs macht die Fülle von Fakten, Beobachtungen und Reflexionen aus, oft aus der Perspektive eines Beteiligten oder eines persönlichen Bekannten der Beteiligten berichtet. Wenige Portraits in Nelsons Buch sind mit so viel Sympathie ausgeführt wie das von Richard Stallman, dem Gründer der Free Software Foundation und Erfinder von GNU/Linux.
Viele Schüler und Studenten bekommen durch Bücher wie Weischedels Philosophische Hintertreppe einen Zugang zur Philosophie. Ich kann mir vorstellen, dass durch Nelsons Buch auch Nichtinformatiker einen Zugang zum Computing als sozialem und historischen Phänomen erhalten. Dabei wird ihnen ein kritischer, aber nicht verbitterter Blick auf die Geschichte vermittelt — und die Lust daran zu zeigen, dass die Metaphysiken der Hierarchie nicht unausweichlich sind.