Cover der deutschen Ausgabe

Held der Geschichte, die Stephen Greenblatt in The Swerve: How the World Became Modern erzählt, ist ein Manuskript: De rerum natura von Lukrez überstand das Mittelalter nur in drei Exemplaren, nur eines von ihnen wurde zu Beginn der Neuzeit entdeckt und bald—erst in Abschriften, später gedruckt—publiziert. Die Biographie Poggio Bracciolinis, des Florentiner Humanisten, der das Manuskript in einem deutschen Kloster fand, ist der wichtigste Handlungsstrang in Greenblatts Buch. Kapitel über den Lukreztext in der Antike und seine Wirkung in der frühen Neuzeit rahmen die Lebensgeschichte Poggios ein. Der Ausdruck swerve, in der deutschen Übersetzung Wende, steht übrigens für clinamen im lateinischen Text: die Abweichung der Atome von ihren graden Bahnen, durch die es überhaupt erst zur Entstehung von Welten und Körpern kommt. (Die deutsche Ausgabe ist leider nur auf totem Holz zu haben und deutlich teurer als das englische Ebook.)

Die epikuräische Philosophie, die in der Neuzeit vor allem über das Gedicht Lukrez’ bekannt wurde, ist für Greenblatt die humane Antithese zum mittelalterlichen kirchlichen Christentum. Die Kirche erscheint in seinem Buch in ihrer unmenschlichsten und autoritärsten Form: Die Hinrichtungen des Jan Hus und des Hieronymus von Prag beim Konstanzer Konzil und Giordano Brunos in Rom bilden die negativen Höhepunkte des Buchs. Die Exekution des tschechischen Reformators Hieronymus sah Bracciolini mit an. Bruno hätte seine Philosophie ohne seine Bekanntschaft mit Lukrez und Epikur, also ohne die Entdeckung Bracciolinis, nicht so formulieren können.

Greenblatts Buch ist journalistisch geschrieben. Greenblatt—Harvard-Professor, Shakespeare-Forscher und Hauptvertreter des New Historicism— beherrscht die Tricks guter Geschichtenerzähler. Er kann mit Perspektiven umgehen, zwischen Haupt- und Nebengeschichten wechseln, Wichtiges pointiert herausheben und die Aspekte beleuchten, die für den Leser heute am packendsten sind. Enorm gebildet, setzt Greenblatt trotzdem nichts bei seinen Lesern voraus. Wer nie etwas von der epikuräischen Philosophie oder der Florentiner Renaissance gehört hat, kann das Buch lesen, ohne woanders nachschlagen zu müssen. Dabei erzählt Greenblatt so spannend, dass man das Buch am liebsten in einem Zug lesen würde. Mich hat es manchmal an Ecos Der Name der Rose erinnert, auch wenn Greenblatt, anders als Eco, nicht mit Fiktionen arbeitet. Ich glaube, dass das Buch nicht nur Jugendlichen einen Zugang zu wichtigen Aspekten der europäischen Geschichte und Geistesgeschichte öffnen kann. Figuren, deren Namen ich aus Geschichtsbüchern und Reiseführern kannte, sind für mich durch die Lektüre Greenblatts zum ersten Mal plastisch geworden—außer Poggio selbst vor allem seine humanistischen Zeitgenossen Coluccio Salutati, Leonardo Bruni und Lorenzo Valla. Unter den neuzeitlichen Lukrez-Lesern, die Greenblatt porträtiert, ist mir Michel de Montaigne am sympathischsten (dem ich das Motto dieses Blogs verdanke). Montaigne hat Lukrez bewundert.

Greenblatt gibt nie die Haltung des Erzählers auf, er formuliert keine Theorien und er systematisiert auch nicht. So wie es Krakauer in Geschichte—Vor den letzten Dingen vorschlägt, arbeitet er ähnlich wie der Regisseur eines Films: Er greift eine Geschichte mit sehr vielen Verknüpfungen heraus, und überlässt es dem Leser, sie zu deuten.

Man kann The Sverwe als ein Buch über die epikuräische Philosophie, als ein Buch über den Florentiner Humanismus oder als Buch über die Geschichte einer Religion lesen, die andere Religionen und Denkformen mit äußerster Brutalität unterdrückt.Ich habe es vor allem als Buch über die Geschichte des Schreibens und des Umgehens mit Texten gelesen. Greenblatt schildert unter anderem, wie zur Zeit von Lukrez selbst Texte gelesen und geschrieben wurden; er beschreibt die Villa dei Papiri in Herculaneum und ihre Entdeckung. Er geht ausführlich auf antike Bibliotheken und das Ende der Bibliothek von Alexandria nach dem Sieg des Christentum ein. Er behandelt die Bedeutung des Lesens und Schreibens im mittelalterlichen Mönchtum und die Weitergabe wenigstens einiger antiker Dokumente durch Kopien in den Skriptorien der mittelalterlichen Klöster. Er erzählt, wie die italienischen Frühhumanisten der Zeit nach Petrarca systematisch nach antiken Texten suchten, sie kopierten und zirkulieren ließen. Und er behandelt die Verbreitung gedruckter Versionen des Lukrez-Texts, der anderthalb Jahrtausende nach seiner Entstehung nicht nur in Giordanon Bruno, sondern auch in Montaigne und Galilei aufmerksame Leser fand.

Poggio Bracciolini, den Entdecker des Lukrezmanuskripts, zeigt Greenblatt in Nahaufnahmen. Bracciolini war päpstlicher Sekretär und begleitete den damaligen Papst Johannes XXIII. auf das Konstanzer Konzil, wo dieser abgesetzt wurde. Nachdem ihm sein Dienstherr abhanden gekommen war, reiste Poggio auf der Suche nach Manuskripten in Klöster nördlich der Alpen; de rerum natura fand er möglicherweise in Fulda. Bracciolini kopierte das Manuskript selbst und sandte seine Kopie an seinen vermögenden Florentiner Freund Niccolò Niccoli, der sein gesamtes Leben in den Dienst der Wiedererweckung der Antike stellte. Niccoli kopierte das Manuskript seinerseits; erst Jahre nach seiner Entdeckung zirkulierte es in Humanistenkreisen. Bracciolini machte auch unter späteren Päpsten Karriere und wurde in hohem Alter noch Kanzler der Republik Florenz. Korruption und Zynismus am päpstlichen Hof hatte er schon in seinen frühen Jahren in den Facetiae verewigt. In einem Brief aus Konstanz über die Verbrennung des Hieronymus von Prag äußert er seine Sympathien für den tschechischen Frühreformator und Mitarbeiter von Jan Hus so deutlich, dass der Adressat Leonardo Bruni ihn erschreckt zu mehr Vorsicht ermahnt.

Poggio machte nicht zuletzt wegen seiner Gabe, außerordentlich schön und schnell zu schreiben, Karriere. Seinen technischen Fähigkeiten, Texte zu finden, zu bewerten, zu kopieren und weiterzugeben, ist es zu verdanken, dass eines der wichtigsten Werke der antiken Literatur für die frühe Neuzeit entdeckt wurde. Die von Poggio weiterentwickelte Handschrift war ein Vorbild für die Typographie der ersten italienischen Drucke. Bracciolini und die übrigen frühen Humanisten gingen—wie bereits die hellenistischen Philologen—kritisch mit den überlieferten Texten um und fragten nach ihrer Echtheit. Mit anderen Worten: Bracciolini war, wie Gutenberg, ein Geek, der sich ein technisches Instrumentarium aneignete und es weiterentwickelte und sich mit einem Zirkel von Gleichgesinnten austauschte, um in seiner Zeit in neuer Form publizieren zu können. Er gab Inhalte nicht nur—wie dies in den Skriptorien der Klöster geschah—weiter. Er sammelte und edierte für ein zeitgenössisches Publikum, veröffentlichte also bewusst. Heute könnte man auch sagen: Er kuratierte. Kurz vor Gutenberg ging er mit handschriftlichen Texten in einer Form um, die durch größere Distanz vom mündlichen oder quasi-mündlichen handschriftlich weitergegebenen Text auf die typografische Schriftlichkeit (Walter Ong) vorausweist.

Christian Vandendorpe schreibt über die universale digitale Bibliothek, die durch das Web für jeden jederzeit zugänglich wird. Bracciolini und die ersten Humanisten hätten die Idee einer solchen Bibliothekt vielleicht schon verstanden—jedenfalls sind sie Vorläufer der Entwickler, die dieses Konzept heute realisieren.

2 Kommentare zu “Greenblatts „Wende“ und die Geschichte des Schreibens

  1. Lieber Herr Wittenbrink, mit Freude habe ich ihren Blog zu Greenblatts Buch über Lukrez und Poggio gelesen. Aber: wär‘ doch ganz nett gewesen, gerade weil Sie Greenblatts Buch auch als eine Geschichte der Schreibens gelesen haben, wenn Sie irgendwo irgendwann darauf eingegangen wären, dass dieses Buch, das Sie offensichtlich mit so viel Freude und Gewinn gelesen, zum zweiten Mal geschrieben, nämlich übersetzt wurde. Natürlich ist „Die Wende“ (mir behagt dieser Titel nicht, aber es gibt für „The Swerve“ keine packende, nämlich titelfähige Übersetzung, zumindest habe ich sie nicht gefunden und Siedlers Marketingleute haben auch so ihre Ideen) Greenblatts Buch. Dass es Sie begeistern konnte und mit ihnen rund 40.000 deutsche Leser, hat, da bin ich uneitel sicher, mit meiner Übersetzung zu tun. Und mich ärgert immer wieder, dass bei Sachbüchern die Mitwirkung der Übersetzer, und auf unsere verborgene Art sind auch wir dann „Autoren“, so gut wie nie — nur wenn wir „Fehler“ machen — erwähnt wird. Eine Gedankenlosigkeit.
    Ich würde mich freuen, wenn Sie bei Ihrem nächsten Blog über (übersetzte) Bücher daran denken würden.
    Freundlich grüßt Klaus Binder

    • Lieber Herr Binder,

      leider habe ich mein Blog in der letzten Zeit sträflich vernachlässigt und ihren Kommentar erst jetzt gesehen. Es tut mir leid, dass ich auf Ihre Übersetzung gar nicht eingegangen bin. Ich habe selbst Bücher übersetzt und weiss, was das bedeutet. In diesem Fall – nur als Erklärung, nicht als Entschuldigung! – habe ich das Buch im Original gelesen und deshalb die Übersetzung nicht aus dem genügend beachtet.

      Herzlich

      Heinz Wittenbrink

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