Auf Maryanne Wolfs Buch Proust and the Squid (dt.: Das lesende Gehirn) bin ich durch ein Interview mit der Autorin gestoßen; jetzt hat mich Schirrmachers Payback dazu gebracht, es tatsächlich zu lesen (und mir noch einige andere Titel zu bestellen).
Maryanne Wolf gibt einen Überblick über das, was man vor allem durch die Hirnforschung über die Mechanismen weiss, die das Lesen ermöglichen; sie beschreibt ausführlich, wie sich die Schrift und das Lesen historisch entwickelt haben, und sie schildert, wie Kinder lernen zu lesen und dabei die Geschichte der Schrift individuell wiederholen. (Ihre Darstellung erinnert an die Biogenetische Grundregel.) Drei fundamentale Eigenschaften des Gehirns machen das Lesen möglich:
-
das Umwidmen („repurposing“ oder „recycling“) von Funktionen, vor allem der Fähigleit, Repräsentationen zu speichern;
-
die Spezialisierung von Gehirnbereichen auf erlernte (also nicht genetisch vorgegebene) Aufgaben; und
-
die Automatisierung von oft wiederholten Funktionen, durch die Kapazitäten für neue Aufgaben freigesetzt werden.
Wenn das Gehirn die Fähigkeit erworben hat flüssig zu lesen, gewinnt es zusätzliche Zeitressourcen für das Denken, für die Bildung von Hypothesen und das Überschreiten dessen, was, z.B. im gerade gelesenen Text, vorgegeben ist. Die Automatisierung führt zu einer Entlastung, die neue, nicht genetisch vorgegebene Leistungen erlaubt.
Wolf leitet ein Zentrum zur Erforschung des Lesens und zur Therapie von Lesestörungen. Sie bettet die Darstellung wissenschaftlicher Forschungen in Reflexionen zur Bedeutung des Lesens ein, die immer wieder die eigene lebenslange Lektüreerfahrung und die eigene Biographie (z.B. als Mutter eines Kindes mit einer Leseschwäche) berühren. Lesen ist eine von der Natur gar nicht vorgesehene Tätigkeit, die ganze Gesellschaften ebenso umgeformt hat, wie sie jedes individuum umformt, das die Welt eines Buches nachschafft und sie sein Leben lang nie ganz verlässt. Für Maryanne Wolf ist das Lesen der Gipfel des für das Gehirn und damit auch für die Kultur Erreichten. Dabei befasst sie sich ausführlich mit Dyslexien, also Lesestörungen—vielleicht der interessanteste Teil ihres Buchs. Bei Dyslexien, die wahrscheinlich genetisch angelegt sind, werden Funktionen, die für das Lesen wichtig sind, von anderen Teilen des Gehirns übernommen als bei den meisten Menschen; bestimmte Regionen der rechten Hirnhälfte spielen eine wichtigere Rolle als im „Normalfall“. Menschen mit Dyslexien fällt das Lesen schwerer als anderen, sie verfügen dafür aber oft über besondere Begabungen vor allem bei der Mustererkennung und der Raumwahrnehmung.
Maryanne Wolf wird manchmal, auch von Frank Schirrmacher, als Kronzeugin für die kulturkonservative These angeführt, das Lesen auf dem Bildschirm und die Überflutung mit Informationen in der beginnenden digitalen Zivilisation gefährdeten die Bildung und die Lesefähigkeit. Tatsächlich warnt sie eindringlich davor, das Lesen als eine generative Fähigkeit, die Neues entstehen lässt, durch bloß reaktive „Informationsverarbeitung“ zu ersetzen. Ihre Thesen lassen sich aber nicht plakativ verwenden, um das gute Alte zu beschwören. Dazu argumentiert sie zu vorsichtig und dazu denkt sie zu differenziert. Sie stellt dar, was Literacy bedeutet, wie unwahrscheinlich sie ist und wie viel sie vorausetzt. Sie ruft nicht dazu auf, auf die nächste Stufe der Literacy zu verzichten, zu der die weltweite Vernetzung und die sofortige Erreichbarkeit von Informationen gehören. Sie insistiert nur darauf, nicht die Zeit zu verspielen, die durch diese neue Ebene der Entlastung gewonnen werden kann.