In der letzten Woche habe ich Losing Earth: The Decade We Almost Stopped Climate Change gelesen. Losing Earth ist eine lange, deprimierende Reportage, für die die New York Times im letzten August eine komplette Ausgabe ihres Magazins reservierte. Es geht um die Vorgeschichte der Klimakrise, die Zeit von den späten 70er bis zu den frühen 90er Jahren, in der es möglich gewesen wäre, durch internationales Handeln die Katastrophe zu vermeiden, die inzwischen begonnen hat.
Nathaniel Rich und der Fotograf George Steinmetz schildern, wie Wissenschaftler und Aktivisten versucht haben, die amerikanische Regierung—das Weiße Haus und den Kongress—dazu zu bringen eine Politik einzuleiten, die den damals bereits bekannten Tatsachen Rechnug trug: Die Verbrennung fossiler Brennstoffe würde schon in wenigen Jahrzehnten zu einem Anstieg der Temperaturen führen, der die Lebensgrundlage in vielen Regionen, vielleicht auf der ganzen Erde gefährdet. Diese Versuche sind gescheitert. Stattdessen wurde seit 1989 mehr CO2 freigesetzt als in der gesamten Geschichte der Industrialisierung zuvor. (Wenn wir uns die aktuellen Nachrichten anschauen, z.B. zum Engagement der deutschen Bundesregierung für eine Gaspipeline, sehen wir, dass die Situation sich nicht verbessert hat.)
Die Geschichte hat zwei Helden: Rafe Pomerance, einen der ersten Aktivisten und Lobbyisten gegen die Klimakatastrophe, und James Hansen, einen führenden Meteorologen, über 30 Jahre Leiter des Goddard Institute for Space Studies der NASA. Beide sind noch aktiv, und beide waren offenbar wichtige Quellen für den Text. Die Reportage beschäftigt sich nicht mit Graswurzelaktivitäten, sondern mit dem Versuch von Spitzenforschern und ihrem Umfeld, Konsequenzen aus Forschungsergebnissen zu ziehen. Dass dieser Versuch gescheitert ist, zeigt, wie sehr sich die Beziehungen zwischen Wissenschaft und politischen Machtzentren seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA verändert haben. Dass dort heute wissenschaftsfeindliche Dunkelmänner die Politik bestimmen, hat eine Vorgeschichte, die schon in der Zeit der republikanischen Präsidenten Reagan und George Bush sen. begonnen hat. Die Reportage zeigt auch, wie sich die Strategie betroffener Unternehme wie (damals) Exxon verändert hat: von den ernsthaften Versuchen, die eigene Zukunft durch das Finden von Alternativen zu fossilen Energieträgern zu sichern hin zu einer auf die Erzeugung von Fear, Uncertainity and Doubt gerichteten PR bzw. Propaganda, die vor allem darauf zielt, die Wissenschaft zu diskreditieren.
Ich bin auf die Geschichte durch ein Interview mit Bruno Latour aufmerksam geworden. Latour versteht die Vorkommnisse, über die Rich berichtet, als Argument für eine Hypothese, die sich leicht als Verschwörungstheorie abtun lässt: die wirtschaftlich Mächtigen hätten damals schon verstanden, dass sich weiteres Wachstum und Ökologie nicht miteinander vereinbaren lassen und seitdem eine Politik verfolgt, durch die sie die vorhandenen Ressourcen noch so intensiv und so lange wie möglich ausbeuten können. Die Deregulierungspolitik, die damals eingeleitet wurde, wäre dann mitverursacht durch die Einsicht in die Begrenztheit der Ressourcen und die Unmöglichkeit, die keynesianische Nachkriegspolitik fortsetzen, die allen Akteuren ermöglichte, vom Wirtschaftswachstum zu profitieren.
Ob diese Hypothese stimmt oder nicht: Die Reportage stellt dar, wie ökologische oder eben antiökologische Politik in den amerikanischen Machtzentren vorbereitet und beschlossen wird. Sie zeigt, dass die Trump-Administration kein Unfall ist, sondern einen Kurs radikaler fortsetzt, der schon unter Reagan eingeleitet wurde. Für die Zukunft lässt sie, wie ich finde, eine weitere Radikalisierung auf der Rechten erwarten, so wie auch umgekehrt nur radikalere Mittel eine Verschärfung der Krise abwenden können. Im Epilog spricht Rich davon, dass nur eine Revolution noch das Schlimmste verhindern kann.
Keeping the planet to two degrees of warming, let alone 1.5 degrees, would require transformative action. It will take more than good works and voluntary commitments; it will take a revolution. But in order to become a revolutionary, you need first to suffer.
Beim Kampf gegen die Klimakatastrophe geht es um Wissenschaft und Aufklärung in einem Sinn, der mich an die frühe Neuzeit und das 18. Jahrhundert erinnert. Reagan und seine Nachfolger und die Lobbyisten der alten Industrien vertraten und vertreten nicht eine argumentativ begründbare Position oder andere politische Akzentsetzungen als ihre ökologisch orientierten Gegner. Sie ignorieren oder bekämpfen aus strategischen Gründen die Wissenschaft da, wo sie politische Konsequenzen hat. Wie Hansen und seine Verbündeten auf Erkenntnissen insisistierten, die von der Politik unterdrückt werden, das hat etwas vom Eppur si muove Galileis.
Ich lese diesen und andere Texte mit der Frage: Wie verhalte ich mich angesichts der globalen Erwärmung und anderer, mit ihr verbundener ökologischer Katastrophen? Man muss nur Zeitungen lesen um, wöchentlich, ja täglich verfolgen zu können, wozu die Entwicklungen geführt haben, die Hansen und Pomerance in den 70er und 80er Jahren vorausgesagt haben: Allein in den letzten Wochen habe ich erfahren, dass einer der größten Antarktisgletscher weitaus mehr geschädigt ist, als man es bisher wusste, dass sehr wahrscheinlich 70-90% der Korallenriffe weltweit absterben werden, dass ein Drittel der Gletscher des Himalaya abschmelzen wird und dass die Biotope in den Küstenregionen, die bereits in den letzten 50 Jahren weltweit zu 30-50% zerstört wurden, vor der Auslöschung stehen, was wiederum die Fähigkeit der Meere zur CO2-Absorption weiter verringern würde. Diese Entwicklungen haben apokalyptische Dimensionen und sie legen es nahe, mit Ignoranz, Zynismus, Verzweiflung oder—mir noch am sympathischsten—mit einem fundamentalistischen Aktivismus zu reagieren. Diese Reportage der New York Times zeigt, dass das Engagement gegen das global heating nicht dem Antimodernismus und der Technikfeindlichkeit entspringt, sondern auf Aufklärung und Anerkennung wissenschaftlicher Ergebnisse aufbaut. Man könnte auch sagen: Es geht, darum, unangenehme kontingente Tatsachen anzuerkennen, die ein geschlossenes Weltbild in Frage stellen: Der Treibhauseffekt und seine Folgen lassen sich so wenig wegargumentieren wie um 1600 die Beobachtungen Galileis. Sie widersprechen dem Anthropozentrismus der marktliberalen Ideologie ganz ähnlich wie die beginnende Physik dem Anthropozentrismus der mittelalterlichen Dogmatik widersprach.