Die Freiheit, die wir meinen (sollten) – bruchstücke (bruchstuecke.info)

Lieber Lorenz, danke für dein ausführliches Post (Lorenz-Meyer, 2020). Ich muss vielen Gedanken darin (und vielen Verweisen) noch nachgehen. Im Ergebnis, der Forderung nach einer neuen Form republikanischer Zivilgesellschaft und des Verständnisses von Freiheit als aktiver Partizipation, stimme ich dir zu, wenn auch vielleicht von einem etwas anderen, weniger humanistischen Ausgangspunkt aus. Ich finde die Argumentationen gegen die scheinbaren historischen Notwendigkeiten des Markts und der Digitalisierung sehr überzeugend. Und ich lerne durch deinen Text gleich eine Reihe von Autorinnen und Autoren kennen, die ich nicht oder kaum gelesen habe …

In einem Punkt möchte ich dir aber widersprechen, nämlich in deinem Verständnis Latours und der Akteur-Netzwerk-Theorie. (Das ist aber keine Kritike an deiner Argumentation insgesamt.) Du schreibst:

Die Vorstellung, dass Technologien selbst Akteure im gesellschaftlichen Wandel seien, findet sich, als Ausgeburt eines post-humanistischen Denkens, auch in der zeitgenössischen Wissenschaft. In der Actor-Network-Theorie des bei Intellektuellen derzeit sehr angesagten französischen Philosophen und Soziologen Bruno Latour etwa sind Gadgets, Applikationen, Technologien selbst handelnde Instanzen, die mehr oder weniger gleichberechtigt neben menschlichen Akteuren Einfluss auf unser Leben nehmen.

Ich glaube, dass es sich dabei um ein Missverständnis Latours handelt. Wenn ich ihn richtig verstehe, dann ordnet Latour Agency nicht isolierten Entitäten zu, also z.B. technischen Gadgets. Agency kommt durch Netzwerke zusammen, die Entitäten miteinander verbinden, und damit, so verstehe ich es, Handlungsmacht gewinnen und auch auf ihre Komponenten transferieren.

Ich muss aber zugeben, dass mir das Konzept der Agency bei Latour selbst nicht ganz klar ist, auch wenn ich mich immer wieder darauf bezogen habe. Ich habe noch einmal nachgelesen und bin auf einen Aufsatz von Edwin Sayes zu nichtmenschlichen Akteuren gestoßen (Sayes, 2014), den Latour als Klarstellung empfiehlt. Ich werde dem Thema noch weiter nachgehen, aber hier schon mal ein, vielleicht sehr naiver, Interpretationsversuch:

Ich glaube, dass man sich dem, was Latour meint, von Konzepten wie sozialer Sinn oder Rollen annähern kann. Wenn ich eine Rolle habe, dann hängt der Sinn dessen, was ich tue von dieser Rolle ab. Ich könnte auch sagen: Meine Handlungsmacht, meine Agency, ist an diese Rolle gebunden. Wenn ich als Lehrender sage, dass ein Text gut ist, dann beurteile ich ihn und mit mir, auf welche Weise auch immer, die Hochschule oder die Disziplin, in deren Namen ich spreche. Ich bin ein anderer Akteur als das Individuum meines Namens (das in Verbindung mit diesem Namen aber auch wieder Rollen hat). Das hat nichts mit meinen Intentionen zu tun, auch wenn ich diese Rolle in meine Intentionen aufnehme, mich also z.B. so benehme, als hätte ich sie nicht.

Ich verstehe die Bezeichnung nichtmenschlicher Akteur so, dass menschliche wie nichtmenschliche Wesen oder Entitäten Teile der sozialen Konfigurationen sind, die solche Rollen definieren—während man sonst meist davon ausgeht, dass nur Menschen zu den sozialen Einheiten gehören, durch die es zu dem sozialen Sinn einer Handlung kommt. Wenn ich z.B. in Verbindung mit dem Covid-19-Virus eine Rolle wie Risikoperson, potenziell infektiös oder im selben Haushalt lebend habe, dann wird diese Rolle durch das Virus und eine ganze Reihe anderer nichtmenschlicher Entitäten, z.B. Tests, mitdefiniert. Diese Rollen sind nicht einfach kausal durch das Virus bestimmt, sie lassen sich nicht auf seine biophysikalischen Wirkungen reduzieren. Sie sind auch nicht von den menschlichen Akteuren auf das Virus projiziert, denn sie hängen mit seinen Eigenschaften zusammen. Unterschiedliche Akteure bilden ein Kollektiv, in dem Rollen bestimmt und verteilt werden.

Wenn man den Aufsatz von Sayes folgt, dann wirken die nichtmenschlichen Akteure bei Kollektiven auf verschiedene Weisen oder auf verschiedenen Ebenen mit:

  • Sie begründen und stabilisieren Kollektive. Um das COVID-19-Virus herum organisiert sich z.B. eine große Zahl spezifischer sozialer Aktivitäten.
  • Sie sind Mittel (intermediaries), die in Interaktionen verwendet werden, aber austauschbar sind: Zeichen auf dem Boden zeigen mir z.B. an, wie weit ich in einer Warteschlange an der Kasse von den Personen vor und hinter mir entfernt sein muss, damit wir uns nicht anstecken können.
  • Sie sind Vermittler (mediators), die an Interaktionen teilnehmen und mit ihren Eigenschaften diese Interaktion mitstrukturieren. Das COVID-19-Virus bewirkt z.B. Unterscheidungen zwischen mehr und weniger anfälligen oder infektiösen Altersgruppen.
  • Sie versammeln Akteure aus verschiedenen Raum- und Zeitzonen (spatialities and temporalities). Das Covid-19-Virus sorgt für Verbindungen (und Unterbrechungen von Verbindungen) über Kontinente hinweg und zwischen Menschen, Haus- und Wildtieren, es verändert die Kompetenzen internationaler Organisationen und staatlicher Stellen.

Sayes schreibt (S. 143):

We saw, first, how nonhumans were conceptualized as necessary for the existence of society (Nonhumans I), as active mediators (Nonhumans II), as important components of our moral and political associations (Nonhumans III), and as implicated in gathering together actors of different spatialities and temporalities (Nonhumans IV).

Ein politisches Beispiel habe ich bei Pierre Charbonnier gefunden (Charbonnier & Confavreux, 2020). Er verweist auf Léon Bourgeois, der Louis Pasteur zu den Gründerfiguren der Republik zählte, weil die Mikroben, vor denen wir uns nur gemeinsam schützen können, eine spezifische Form der Solidarität in einem Territorium bewirken.

Die Handlungsmacht der nichtmenschlichen Akteure ist nicht eine obskure Qualität, sondern sie ergibt sich daraus, dass die Nonhumans Teile von Kollektiven sind bzw. Kollektive (Gruppen, Netzwerke, Organisationen, Gesellschaften) nie nur aus Menschen bestehen. Das Rätselhafte oder schwer zu Erfassende ist der soziale Sinn der Handlungen und seine Zuschreibung, das, was sich nicht auf individuelle Intentionen zurückführen lässt, aber dieses Soziale ist nicht weniger rätselhaft, wenn es allein menschlichen Akteuren zugeschrieben wird. (Die Bezeichnungen Rolle oder sozialer Sinn sind nur Annäherungen, die mit der Akteur-Netwerk-Theorie und ihren Konzepten des Sozialen nicht viel zu tun haben.)

Mit Latour würde ich in die Forderung nach einem neuen Republikanismus die Nonhumans, konkreter: das war er terrestrisch nennt, aufnehmen. Das sage ich jetzt etwas pauschal—aber wir reden und schreiben ja sicher weiter.

Nachweise:

Charbonnier, P., & Confavreux, J. (2020). Cette épidémie électrise la gauche. Retrieved from https://www.mediapart.fr/journal/culture-idees/160520/cette-epidemie-electrise-la-gauche
Lorenz-Meyer, L. (2020). Die Freiheit, die wir meinen (sollten) bruchstücke. Retrieved from https://bruchstuecke.info/2020/05/09/die-freiheit-die-wir-meinen-sollten/
Sayes, E. (2014). ActorNetwork Theory and Methodology: Just What Does It Mean to Say That Nonhumans Have Agency? Social Studies of Science, 44(1), 134–149. https://doi.org/10.1177/0306312713511867

3 Kommentare zu “Antwort an Lorenz Lorenz-Meyer—Nichtmenschliche Akteure bei Latour

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