Im letzten Jahr sind für mich zwei Entwicklungen wichtig geworden, die selten miteinander in Verbindung gebracht werden: das Engagement für Postwachstum, Degrowth oder Décroissance, und die IndieWeb-Bewegung. Unter IndieWeb versteht man ein offenes, von den individuellen Usern kontrolliertes und gehostetes Web. Es erinnert an das Web der 90er Jahre, integriert aber die inzwischen hinzugekommenen Funktionalitäten der sozialen Medien mit offenen Technologien und verzichtet dabei auf zentralistische Lösungen.
Man kann das IndieWeb als ein Mittel verstehen, um die Ziele der Degrowth-Bewegung zu erreichen, also als ein Medium, das mit minimalen Hardware- und Software-Ressourcen auskommt. Außerdem verfolgen das IndieWeb und die Degrowth-Bewegung ähnliche Zielsetzungen, können sich gegenseitig unterstützen und voneinander lernen. Beide Strömungen beruhen auf ähnlichen Prinzipien, auch wenn diese Prinzipien sicher oft ganz verschieden formuliert werden.
- Degrowth ist die einzige realistische Möglichkeit, Klimawandel und Massenaussterben in einer absehbaren Zukunft zu begrenzen.
- Degrowth ist nur möglich, wenn wir soziale und wirtschaftliche Strukturen schaffen, die ohne Wachstum funktionieren.
- Das IndieWeb ist eine solche Struktur, die von den Teilnehmern selbst dezentral aufrechterhalten werden kann.
Das IndieWeb, zu dessen Design-Mustern das progressive enhancement gehört, ist minimalistisch und darauf ausgerichtet, das Inhalte auf so vielen Geräten und unter so vielen unterschiedlichen Umständen wie möglich funktionieren. Damit ist es unabhängig von Geräten, die vor allem entwickelt werden, um den Konsum zu steigern. Es ist aber nicht nur durch einen geringen Ressourcenverbrauch eine Alternative zur permanenten Intensivierung des Konsums. Die verschiedenen proprietären Plattform, angefangen mit Facebook und seinen Abzweigungen, sind deshalb gratis, weil sie werbefinanziert sind. Zu den alten Grundsätzen der Wachstumskritik gehört es aber, Werbung zu unterbinden um den Konsum nicht noch weiter zu steigern. Wenn man sich auf werbefinanzierte Plattform verlässt, um Inhalte zu verbreiten, wirkt man zwangsläufig an der Wachstums-Wirtschaft mit. Das IndieWeb wird von seinen Teilnehmern finanziert und ist nicht auf Werbung angewiesen—um den Preis, die gegenwärtige Massenwirkung kommerzieller Plattform bei weitem nicht zu erreichen.
Größe ist als solche problematisch
Gemeinsam ist dem IndieWeb und der Degrowth-Bewegung eine generelle Kritik an großen Einheiten. Die Größe als solche hat bei sozialen und technischen Institutionen möglicherweise negative Effekte, weil sich große Einheiten zwangsläufig der Kontrolle durch die Individuen oder durch kleinere gesellschaftliche Gruppen entziehen und Verschiedenheit und Evolutionsmöglichkeiten begrenzen. Wahrscheinlich führt Größe als solche dazu, dass soziotechnische Einheiten ihren eigenen Elementen und anderen kleinen Einheiten gewaltsam gegenüberstehen. Ich möchte hier nicht zuviel darüber philosophieren. Aber ich möchte auf die grundsätzlichen Zweifel hinweisen, die Leute wie Ivan Illich an großen sozialen Einheiten geäußert haben.
The major institutions now optimize the output of large tools for lifeless people. Their inversion implies institutions that would foster the use of individually accessible tools to support the meaningful and responsible deeds of fully awake people. Turning basic institutions upside down and inside out is what the adoption of a convivial mode of production would require. Such an inversion of society is beyond the managers of present institutions. [Ivan Illich: Tools for Conviviality (PDF)]
Vielleicht kann man diese Gedanken Illichs in eine Verbindung zu der Kritik Tim Berners-Lees an seiner eigenen Erfindung bringen, die durch ihren Erfolg zum Gegenteil dessen geworden ist, was ihre Urheber wollten. Das IndieWeb ist eine Korrektur dieser Fehlentwicklung des Web, so wie auch die neuen Projekte Tim Berners-Lees ein Versuch sind, das Web durch eine Art Neugründung zu retten. Ganz ähnlich strebt die Degrowth-Bewegung ein Ende der kapitalistischen wirtschaftlichen Entwicklung an, die zu Effekten geführt hat, die den ursprünglichen emanzipatorischen Zielen des Liberalismus diametral widersprechen. So wie die Vertreter des Indieweb nicht den Verzicht auf das Web verfechten, so propagiert auch die Degrowth-Bewegung nicht eine Rückkehr zu einem idealisierten vorindustriellen Zustand, aber eine Schubuumkehr und vernünftige Selbstbeschränkung.
Ethische Motivation
Man kann einwenden, dass der Kampf gegen die kommerziellen Social-Media-Plattformen und damit verbunden auch gegen die Forderung nach einer immer leistungsfähigeren Hardware—die übrigens auch zu immer höheren Kosten produziert wird—genauso Don-Quijote-esk es ist wie der Kampf gegen die Klimakrise, und ganz besonders dann, wenn dieser Kampf durch eine Veränderung des persönlichen Verhaltens geführt wird. Allerdings gibt es viele Beispiele dafür, dass geschichtliche Entwicklungen nicht dem folgen, was in einem bestimmten Augenblick als Mainstream angesehen wurde. Auch das Internet selbst war einmal ein nerdiges Minderheiten-Programm, und nur wenige haben es für möglich gehalten, dass es die gesamte Wirtschaft revolutioniert. Die wichtigsten Motive dafür, sich für das Indieweb oder Degrowth einzusetzen, sind aber ethisch und von den Erfolgschancen unabhängig. Man will sich so wenig wie möglich daran beteiligen, die Biosphäre weiter zu zerstören und die Kommunikationsinfrastruktur Unternehmen zu überlassen, die durch ihre Geschäftsmodelle an dieser Zerstörung mitwirken.
Über die Beziehungen zwischen Degrowth- und Indieweb-Prinzipien nachzudenken hilft vielleicht auch dabei, Missverständnisse über diese Bewegungen zu vermeiden. Eine schrumpfende Wirtschaft, sollte es je gelingen, sie zu realisieren, wird nicht statisch und nicht antitechnologisch sein—so wie das Web auf Technik beruht und nicht statisch ist. Sie wird möglicherweise sogar auf ihre eigene Weise auch fortschrittlich sein—nur eben in der Richtung auf weniger Verbrauch von materiellen und psychischen Ressourcen. Sie wird nicht in einem bestimmten Zustand stehenbleiben, sondern sich weiterentwickeln und mehr Evolution zulassen, als es globale Riesenstrukturen ermöglichen.