In London, während der letzten Woche dort mit COS17, habe ich den langen Bericht im Guardian gelesen, in dem es um die Anerkennung des Anthropozän als geologischer Epoche durch die Internationale Kommission für Stratigrafie geht. Der Artikel berichtet ausführlich über die Geschichte dieses Konzepts und den aktuellen Stand, den ich so verstehe: Die Anthropocene Working Group hat sich (wenige Tage nach dem Artikel im Guardian) darauf geeinigt, eine distinkte geologische Epoche namens Anthropozän vorzuschlagen und setzt ihren Beginn mehrheitlich auf die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts an (siehe: Anthropocene now: influential panel votes to recognize Earth’s new epoch und Nächster Schritt zur offiziellen Anerkennung des Anthropozäns). Das geologische Indiz für den Beginn dieser Epoche sei der Fallout der Atombombenversuche. Er ist weltweit nachweisbar und unterscheidet das, was nach ihm kommt, deutlich von den älteren Schichten, vor allem von dem unmittelbar vorausgegangenen Holozän.
Ich vermute, dass Max Frisch, an etwas wie das Anthropozän gedacht hat, als er Der Mensch erscheint im Holozän. schrieb. Ich verbinde das Wort auch mit meinen Erinnerungen an die Hochhäuser, für die von Jahr zu Jahr größere Teile des Londoner Ostens planiert werden.
Der Leiter der stratigraphischen Arbeitsgruppe ist Jan Zalasiewicz, der im Guardian ausführlich porträtiert wird, ein offenbar untypischer Geologe, der gegen den Strom seiner Disziplin schwimmen musste, um diesen Begriff zu etablieren. Von den Geologen als Epoche anerkannt ist das Anthropozän noch nicht—dieser Prozess kann noch Jahre dauern, und sein Ergebnis ist noch nicht sicher. Außerhalb der Geologie hat sich der Begriff aber bereits durchgesetzt, und er ist selbst ein Indikator einer kulturellen Veränderung. Mir ist er zuerst bei Bruno Latour begegnet. Ich erinnere mich, wenn ich das Wort lese, daran dass Karin Knorr Cetina bei der Garfinkel-Tagung in Konstanz fast eine Scheu davor hatte, das Wort auszusprechen. Es bezeichnet etwas Unheimliches und Unausweichliches, das unsere Alltagssoziologie genauso in Frage stellt wie viele Konzepte der Sozialwissenschaft.
Wer darüber nachdenken will, ob Anthropozän ein wissenschaftlicher Begriff, eine Metapher oder beides ist, und was die Verlegenheit, zwischen beidem zu unterscheiden, über wissenschaftliche Begriffe und Metaphern sagt, der sollte sich das Interview mit Jan Zalasiewicz anhören, das vor ein paar Tagen auf On The Media gebracht worden ist: „We Are the Meteor“. In elegantem Bildungs-Englisch erklärt Zalasiewicz dort, was mit dem Anthropozän gemeint ist. Er vergleicht die Veränderungen am Beginn dieser Epoche mit dem Asteroiden-Einschlag, der die Zeit der Dinosaurier beendet hat. Er versucht sich in die Rolle von—nicht menschlichen—Geologen zu versetzen, die in Millionen von Jahren die geologische Schicht des Anthropozän erforschen und dort zum Beispiel bei weitem mehr Mineralien entdecken, als sie die Natur auf der Erde hervorgebracht hat. Und er spricht auch über die Evolution nach dem Beginn des Anthropozän, in der sich Tierarten wie die Ratten möglicherweise so weiterentwickeln werden, wie es die Ursäuger nach dem Ende der Dinosaurier tun konnten. Zalasiewicz hat 2008 das Buch The Earth after us über das Anthropozän geschrieben. Im Anschluss an das Interview berichtet On the Media über die Übernahme des Begriffs in der Popkultur.
Wir sprechen im Programm der off_gallery, die wir hier in Graz gestartet haben, vom Anthropozän. Für mich steht das Wort auch für das, was wir dort ausstellen wollen: Beobachtungen einer Realität, für die die Unterscheidung von Natürlichem und Kulturellem, Menschengemachten nicht mehr gilt.