— Florian Gossy (@floriangossy) December 20, 2012

Über die Feiertage habe ich das Multimedia-Feature Snow Fall: The Avalanche at Tunnel Creek der New York Times gelesen—und danach nicht wenige Artikel darüber (einen guten Überblick liefert Mediagazer; interessant die Diskussion auf Reddit). Snow Fall ist viel gelobt worden, vor allem wegen der Art und Weise, wie Medien und Text aufeinander bezogen sind. Das ist aber nur ein Grund dafür, dass dieses Feature bemerkenswert ist. Der Text selbst ist von hoher literarischer Qualität und entspricht in seiner Schreibweise der Art und Weise, wie die Medien in ihm erscheinen. Interessant ist auch, wie in diesem Feature Medien und Daten verarbeitet werden, die von den Akteuren selbst erzeugt wurden. Und als eigenständiges Projekt in mehreren Kanälen zeigt das Feature neue Möglichkeiten journalistischer Publikationen jenseits vorweg definierter Zeitungs- oder Magazinformate.

Snow Fall setzt Maßstäbe für long form journalism im Netz—für multimediales Erzählen, bei dem die Medien nicht nur als Addon funktionieren und für einen digitalen Text, der für mobile Leseoberflächen jenseits des Computerbildschirms und der Seite eingerichtet wird. Allerdings verbietet es gerade die Abstimmung der verschiedenen Elemente und Ebenen, dieses Feature einfach als Muster anzusehen und nachzumachen. Andere Inhalte fordern andere Formen.

Scrollen und entfaltendes Lesen

Thema des Features ist ein Lawinenunglück, dem am 19.Februar 2012 mehrere Tiefschnee-Skifahrer im amerikanischen Bundesstaat Washington zum Opfer gefallen sind. John Branch schildert den Ablauf der Tour und des Unglücks detailliert und wie in Nahaufnahmen aus den Perspektiven mehrerer Akteure. Er bewertet die Ereignisse sehr zurückhaltend und verweist nur gelegentlich auf den größeren Zusammenhang der Entwicklung des Tiefschneefahrens außerhalb überwachter Abfahrten.

Das Feature besteht aus sechs Abschnitten oder Kapiteln, die chronologisch geordnet sind: Tunnel Creek, To the Peak, Descent Begins, Blur of White, Discovery, Word Spreads. Zu jedem Abschnitt gehören multimediale Elemente: Videos, Fotos und Diashows, Animationen und Audios. Ob und wie die Medienelemente präsentiert werden, beeinflusst der Benutzer durch das Scrollen des Textes. So startet man Videos, wenn man bei der Lektüre eine bestimmte Stelle erreicht. Die Startbilder anderer Videos bleiben grau, bis man im Text bei ihnen angekommen ist; dann werden sie farbig und fordern damit dazu auf, sie anzuschauen. Den kompletten Bildschirm füllende Animationen erscheinen, wenn man eine bestimmte Stelle im Text erreicht hat; scrollt man weiter, bewegt sich der Text über die Animationen und verdeckt sie (siehe dazu u.a. How The New York Times’ ‘Snow Fall’ project unifies text, multimedia und What the New York Times’s ‚Snow Fall‘ Means to Online Journalism’s Future ).

Die sparsam verwendeten Medien sind inhaltlich genau mit dem Text abgestimmt. Indem man sie—wenigstens zum Teil—durch die Bewegung des Textes beeinflusst, liest man sie fast mit, statt sie als optionale Ergänzung des Textes wahrzunehmen.

Snow Fall entfernt sich nicht nur von dem Paradigma der Buchseite sondern auch von dem des Screens—wenn man als Screen eine Oberfläche mit fixierten Dimensionen versteht. Der Screen ist nicht mehr eine metaphorische Oberfläche, auf der der Text angeordnet ist, sondern ein Viewport (um den Ausdruck aus dem CSS-Lingo etwas lax zu verwenden) auf einen Text, der sich den Dimensionen dieses Viewports anpasst und ihn an bestimmten Stellen mit Medien beschickt.

Ich habe vor ein paar Monaten Vandendorpes Buch über Hypertext gelesen, in dem der Übergang von der Schriftrolle zum codex, dem aus aufeinandergeschichteten Seiten bestehenden Buch, eine große Rolle spielt. Die Seiten der üblichen Ebooks bilden einen Codex nach. Screens, die feste Ausmaße haben, und auf denen Text und Medien verortet sind, folgen nicht strikt der Metapher des codex, aber doch der der Seite, auf der Text tabularisch angeordnet ist. Das ändert sich nicht grundsätzlich, wenn sich das Layout verschiedenen Screenformaten anpasst. Im Vergleich dazu entspricht Snow Fall eher Schriftrollen, in denen man sich nur durch die Position im Text orientieren kann, aber nicht durch die Lokalisierung auf einem realen oder virtuellen Trägermedium. Die sechs Kapitel des Features entsprächen dann verschiedenen Rollen, die gemeinsam in einem Behälter untergebracht sind, wie es in der Antike üblich war, als die einzelne Rolle als Buch bezeichnet wurde. Allerdings werden hier nicht Schriftrollen so imitiert (skeuomorph), wie ein Ebook ein auf Seiten gedrucktes Buch imitiert. Lediglich die lineare Bewegung durch den Text legt die Metapher des Rollens (scrollen) nahe.

Die Designer des Features der New York Times haben Techniken übernommen und umgestaltet, die in den letzten Jahren für potenziell endlose einseitige Layouts entwickelt wurden (ein anderes Beispiel: America: Elect!). Auf diese Verbindungen bin ich vor allem durch Stefan Hejinks Post Wie Sie das Snowfall-Layout der New York Times auf Ihre Site bringen aufmerksam geworden, das weiterführende Hinweise enthält. Allerdings ist es wohl nicht ganz korrekt, von parallax scrolling zu sprechen. Beim parallax scrolling verschieben sich die Elemente auf einer Seite beim Scrollen unterschiedlich schnell, so dass der Eindruck räumlicher Tiefe entsteht. Ich nehme an, dass es bald Tools geben wird, mit denen sich solche Effekte leicht erreichen lassen—möglicherweise mit ähnlich fatalen Konsequenzen wie weiland Flash in der Hand cooler Designer (Notiz an mich selbst: mich mit Techniken wie skrollr beschäftigen!).

Die Erzählperspektiven

Erzählt wird fast immer aus der zeitlichen und räumlichen Perspektive einer der handelnden Personen. Der Text folgt ihren Erfahrungen aus der Nähe. Lediglich Hintergrundinformationen bilden eine Ausnahme. Diese langsame Entfaltung des Geschehens in der Erzählung passt genau zum Ablauf des Erfassens des Textes beim Lesen. Am Ende, nicht schon am Beginn, hat der Leser einen Überblick über Geschehen und Text. Es wird auch erst am Ende ein Video gezeigt, das einen Überblick über das ganze Geschehen gibt und dabei Material verwendet, das man zuvor beim Lesen des Textes bereits kennengelernt hat.

Die Ski- und Snowboardfahrer, deren Geschichte John Branch erzählt, werden Opfer eines Ereignisses, das sie nicht voraussagen konnten. Was passiert ist, verstehen sie wie in einer griechischen Tragödie erst, als alles vorbei ist und einige von ihnen nicht mehr leben. Emotional bleibt das Geschehen unheimlich und unbegreiflich. Branch zeigt die Trauer der Überlebenden so genau und quälend langsam, wie er zuvor den Ablauf des Trips bis zum Bergen der Toten beschrieben hat.

Die Sprache des Texts ist präzise, anschaulich und abwechslungsreich; Branch nutzt die Möglichkeiten, optische und akustischen Erfahrungen zu bezeichnen, die ihm das englische Vokabular bietet. Ich war selten bei der Lektüre eines Texts so froh über die Möglichkeit, unbekannte Wörter gleich nachschlagen zu können. Viele dieser Ausdrücke lassen sich nicht direkt ins Deutsche übersetzen. Durch die sorgfältige Komposition und den, durchaus zelebrierten sprachlichen Reichtum lässt sich Snow Fall als journalistischen Reportage wie als literarische Erzählung lesen.

Ein digitales Feature in einer digitalen Zivilisation

Ich finde auch einen weiteren Aspekt bemerkenswert. In das Feature sind einige Dokumente integriert, außer Fotos zu den Biographien der Akteure auch Aufnahmen einer Helmkamera, die unmittelbar vor der Lawine bei der Abfahrt durch das Tunnel Creek gemacht wurden, und Aufzeichnungen von Gesprächen mit dem Rettungsdienst. Wichtige Teile des Geschehens wurden medial und digital dokumentiert, unabhängig von der Reportage, für die diese Dokumente später verwendet wurden. Die Hauptpersonen der Geschichte—auch und gerade die, die der Lawine zum Opfer fallen—haben beneidenswerte Biographien und überdurchschnittlichen Erfolg im Leben, sie treiben einen riskanten, hochtechnisierten Wintersport an einem angesagten Ort. Es liegt nahe, dabei die Hybris der Helden der antiken Tragödie zu assoziieren. Zu dieser Umgebung gehört die digitale Selbstarchivierung und Selbstdarstellung, die hier Teil der Geschichte wird. Die Veröffentlichung durch die Reportage in der New York Times und die Öffentlichkeit, die die Akteure selbst herstellen, greifen ineinander—in einer Weise, die immer mehr selbstverständlich werden wird, je mehr wir mit mobilen Devices von unserem Leben aufzeichnen und teilen.

Mehrdimensionales Projekt statt geschlossener Artikel

Auch die Weise, wie Snow Fall publiziert wird, bricht mit den Konventionen journalistischer Formate: Es ist beinahe ein Stand-alone-Produkt. Es wurde zwar von einem größeren Team der Times über ein halbes Jahr produziert, aber es wird als selbständige Publikation angeboten, die auch als Ebook vertrieben wird (in Kooperation mit Byliner), und die außer einem Logo keine Hinweise auf die Site der Zeitung enthält. Ein Drittel der fast drei Millionen Visits, auf die es das Feature in den ersten 10 Tagen brachte, kamen von Usern, die die NYT selbst nicht lesen. Mehr als an üblichen Zeitungsartikel erinnert das Feature an andere Beispiele des neuen long form journalism wie die selbständigen Artikel von Matter. Für Laura Hazard Owen ist Snow Fall ein Beleg dafür, dass 2012 das Jahr des e-single war.

Neuer oder alter Journalismus

Snow Fall erscheint am Ende eines Jahres, in dem die Krise der Zeitungen in den USA wie in Europa ad nauseam medial aufgekocht wurde. Es ist sicher nicht überzogen, die aufwändige Publikation als verlegerisches Signal zu verstehen: Das leistet professioneller Journalismus! Für so etwas braucht man eine wirtschaftlich abgesicherte news organization! Die Leistung des Verlags besteht dabei zu einem guten Teil darin, ein Format neu zu durchdenken und zum Teil neu zu erfinden, also gerade nicht die bereits bekannten Wege zu benutzen. Hiesige Zeitungsverleger könnten ihre Unersetzbarkeit überzeugender begründen, wenn sie Innovationen wie Snow Fall ermöglichen würden, statt einen durch ein Leistungsschutzrecht verteidigten Jurassic Park für ihre Produkte zu fordern. Snow Fall ist auch eine ernstzunehmende PR-Aktion für das Überleben von Verlagen im digitalen Zeitalter.

Ob und wie Snow Fall als Vorbild für andere Verlage und Journalisten dienen kann, ist bereits viel diskutiert worden und wird noch lange diskutiert werden. Mathew Ingram hat in The good — and the bad — about the NYT’s Snow Fall feature darauf hingewiesen, dass die NYT publizistisch in einer eigenen Klasse spielt und sich nicht 1:1 auf andere übertragen lässt, was in dieser Klasse funktioniert:

In many ways, the feature was a little like the paper’s paywall: a feat of engineering that only the New York Times or another major media entity could succeed at, and also a double-edged sword that leaves behind almost as many questions as it does as answers.

Eher skeptisch ist Marcus Bösch, der daran zweifelt, dass viele Besucher das Feature auch tatsächlich gelesen haben.

Ich glaube nicht, dass die Argumente von Ingram und Bösch den Kern der Sache treffen: Autoren wie Proust und Musil bleiben exemplarisch, selbst wenn sie kaum gelesen werden und sich nie direkt nachahmen lassen. Snow Fall ist dadurch ein Vorbild, dass es einen völlig eigenen Weg einschlägt. Es hilft zu verstehen, was heute im Web möglich ist, gerade weil sein Inhalt, die Medien, die es benutzt, und die Produktionsbedingungen so besonders sind.

4 Kommentare zu “Snow Fall: Ein Beispiel für die lange Form im digitalen Journalismus

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