Vor einem Dreivierteljahr habe ich damit aufgehört, Vollzeit zu arbeiten, und die Leitung des Studiengangs Content-Strategie abgegeben. Wie ich jetzt lebe und was ich an einem normalen Tag mache, unterscheidet sich ziemlich deutlich davon, wie ich mir damals mein Leben in Altersteilzeit vorgestellt habe. Ich hatte mir gedacht, dass ich mich zum Teil mit den inhaltlichen Aspekten der Content-Strategie beschäftigen würde, zum Teil mit philosophischen Themen und zum Teil mit der off_gallery, die wir in der Nähe unserer Wohnung gestartet haben.

Tatsächlich beschäftige ich mich jetzt in einem großen Teil meiner Zeit mit ökologischen, vor allem Klimathemen, stecke mehr Zeit und Energie in Aktivismus als in der Nachachtundsechziger-Zeit als Schüler und Student, und in der Content-Strategie interessiert es mich vor allem, wie man das Web und die Web-Kommunikation dekarbonisieren kann: welche Beiträge sie bei der Transformation zu einer Postwachstumsgesellschaft leisten können und ob und wie man sie aus dem herauslösen kann, was in der Sprache von Extinction Rebellion ein toxisches System heisst.

Ich frage mich, ob ich damit mein Leben, jedenfalls seinen öffentlichen und beruflichen Teil, ausgehend von einem moralischen Imperativ organisiere und anderen auf die Nerven gehe—ob ich die relativ große materielle Sicherheit, in der ich jetzt lebe, dazu benutze, mich als Gutmensch zu profilieren, wie es mit einem schrecklichen Ausdruck aus der rechten Szene heisst.

Man kann seine eigenen Motive nur schwer selbst beschreiben (und ich bin nicht sicher, ob es überhaupt so etwas wie Motive gibt—als eindeutige Ursachen dessen, was man tut). In meiner Wahrnehmung habe ich nicht vor allem moralische Gründe dafür, mich mit diesen Themen zu beschäftigen—auch wenn ich bei ihnen tatsächlich emotional sehr beteiligt bin und meinen Standpunkt mit einer Eindeutigkeit vertrete, die ich von mir selbst sonst nicht kenne.

Ich kann schwer anders, weil ich den Eindruck habe, dass ich anders nicht wirklich heute, in der Gegenwart leben würde. Ich nehme die Thematik des Anthropozäns (um sie provisorisch so zu bezeichnen) ähnlich, aber viel intensiver wahr, wie Ende der Achtziger und Anfang der 90er Jahre die Digitalisierung: als einen sozialen, politischen und auch intellektuellen Bruch—oder eher: als einen Bruch in dem, was öffentlich relevant ist. Und umgekehrt kommt mir die ganze Welt der digitalen Utopien, in die ich mich vor 30 Jahren intensiv hineinbegeben habe, jetzt abgestanden und überholt vor.

Ich weiss, dass ich damit von einem Zeitgeist abhängig bin—mehr als viele Leute, die ich schätze. Ich würde mir wünschen, dass ich an den ökologischen Themen festgehalten hätte, als sie nicht aktuell waren. Die Wachstumskritik z.B. von Rudolf Bahro und André Gorz habe ich schon gekannt, bevor ich mich mit digitalen Themen befasst habe, aber ich habe dann bei einem Mainstream mitgemacht, der die Erkenntnisse über die Grenzen des Wachstums, die es spätestens in den 70er Jahren gab, ignoriert hat. Ich muss meine Abhängigkeit von Zeitströmungen wohl akzeptieren. Aber ich muss auch akzeptieren, dass ich Dinge aufgeben und kritisieren muss, die mir überholt vorkommen.

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