Am Donnerstag und Freitag habe ich ein kleines Lyrikfestival im Grazer Literaturhaus besucht. Vor allem die Lesungen von Michael Krüger und Zsuzsana Gahse haben mir gefallen. Gahses Siebenundsiebzig Geschwister und Popps 118 liegen in unserem Wohnzimmer.
Bevor ich 30 war, hatte ich eine Zeitlang die Akzente und die manuskripte abonniert. Am Freitag saßen Ana und ich—in einiger Entfernung—zum Abendessen an einem großen Tisch mit Michael Krüger und Alfred Kolleritsch, damals (bei den Manuskripten bis heute) die Herausgeber der beiden Zeitschriften. An den Wänden der drei großen Räume der alten Villa, in der das Literaturhaus untergebraucht ist, hingen die Bilder von Gerhard Roth.
Das Literaturhaus ist einer der Orte, die mich an Graz binden. Die Nähe zum Literaturhaus war ein Grund dafür, dass es mir in meiner Wohnung in der Villefortgasse so gut gefiel. Durch einen gemeinsamen Bekannten haben wir jetzt eine der Kuratorinnen kennengelernt und uns mit ihr am Freitagabend über das Lesen unterhalten.
Alle sind zu sehr bei sich, und zu wenig bei den Sachen, schreibt Michael Krüger in einem der Gedichte, die er im Literaturhaus gelesen hat. Vielleicht geht es mir gerade genauso. Ich denke über mich nach statt über das, was ich erfahren habe. Ich habe mich, bevor ich gearbeitet habe, für Lyrik interessiert und selbst Gedichte geschrieben. Auch danach habe ich mich immer wieder mit Lyrik beschäftigt, war allerdings höchstens im Urlaub offen genug dazu. Ich würde gerne an die Zeit anschließen, in der ich experimentell geschrieben habe. Aber den Weg dorthin habe ich noch nicht gefunden.
Bei Zsuzsana Gahses Vortrag habe ich gedacht, wie armselig die objektivierende Sprache ist, die ich im Beruf verwende. Mir ist etwas durch den Kopf geschossen, das ich fast vergessen hatte: Für das Sprechen ist nicht das wichtig, was gesagt wird. Die Lust liegt in der Erzeugung, im Spiel. Früher hätte ich wahrscheinlich gesagt: in der énonciation, nicht im énoncé. Gahse hat das zu Anfang ihrer Lesung zum Thema gemacht, als sie über Wortfeld des Erzeugens in den europäischen Sprachen gesprochen hat, in denen das deutsche Kind, das englische kind, die französischen gens und die italienische gente zusammenhängen.
Das Literaturhaus gehört zum Literaturbetrieb. Dass es ohne diesen Betrieb keine Literatur gibt, ohne Verlage und Buchhandlungen, das war mir früher nicht klar. Auch die Autoren, selbst die Lyriker, spielen Rollen in diesem Betrieb. Oder genauer: Sie müssen ihn aufrechterhalten. Ihre Texte sind in diese Netzwerke eingeschrieben.
Zwischen diesem Betrieb und den Netzwerken des Schreibens im Netz liegen Abgründe, die schwer zu überbrücken sind. Ich lebe schon lange in dieser anderen Landschaft. Für mich ist die Frage nicht, ob ein Verlag meine Texte druckt, sondern ob ich WordPress, Ghost oder Jekyll zum Bloggen nehmen soll.
Am Ende des Abends gestern habe ich erfahren, dass Kathrin Passig im Mai nach Graz kommt. Ich hoffe, dass ich mir ihre Vorlesungen anhören kann. Sie gehört zu den wenigen Autorinnen, die in den beiden Welten zuhause sein können, die für mich noch kaum verbunden sind.