Ich habe Bruno Latours neues Buch Où suis-je (deutsch: Wo bin ich?, Latour 2021) in einer Woche gelesen, die mit der Lektüre der Political Summary des IPCC AR6 (IPCC et al., 2021) begann und einer dreitägigen Online Assembly von Extinction Rebellion Austria endete. In dieser Woche habe ich mich zugleich auf das Leben hier in Dubrovnik eingestellt. Latours Ratschlag an uns Erdlinge (französisch: terrestres), die Netzwerke, in denen man lebt und von denen man abhängig ist, von dem Ort aus, an dem man ist, zu erforschen, habe ich auf das Erschließen dieser Umgebung einer mediterranen Stadt übertragen, die ich zwar etwas kenne, aber die gerade jetzt—nach den Lock downs und nach dem Ende meiner Zeit als Angestellter—wieder neu für mich ist.
Latour spricht gleich zu Beginn seines Buchs von der Hoffnung und der Notwendigkeit, nach dem Lockdown nicht so weiterzumachen wie vorher, zu begreifen, dass ein neues Klimaregime herrscht, das alle Gewissheiten der—nie Wirklichkeit gewordenen—Moderne in Frage stellt.
Der Termitenbau, dessen Bewohnerinnen alles durchgekaut haben, was ihre Umwelt bildet, ist eine der Allegorien Latours für die Existenz in der kritischen Zone an der Erdoberfläche, in der Leben möglich ist, weil es sich selbst in vielen kleinen Schritten erfunden hat. Latour beschreibt eine Beziehung zur Umgebung, bei der die Umgebung von denen, die sie bewohnen, gemacht ist und bestimmt, wie die in ihr Lebenden sich bewegen und handeln. Dabei hat nie eine Akteurin oder ein Akteur oder eine Gruppe von Akteurinnen oder Akteuren die Priorität: Sie sind miteinander verschränkt. Nichts hat eine festgeschriebene Identität, weder Menschen noch Dinge (wobei es Dinge im Sinne des modernen Verständnisses der unbelebten Sachen für Latour in der Erfahrung nicht gibt). Latour zeichnet solche Beziehungen und Beziehungsnetzwerke in allen seinen Texten nach, und dabei zeichnet er dieses Nachzeichnen selbst auf. Er tut es aber selten so kolloquial, so poetisch und so persönlich wie in diesem conte philosophique (philosophische Erzählung), der statt eines Anmerkungsapparats eine kommentierte Leseliste enthält, die viele Quellen von Latours science déambulatoire (Nomadenwissenschaft, übernommen von Deleuze/Guattari) offenlegt.
Wie wir das Klima in unserem Termitenbau machen, davon lesen wir in diesem Sommer an jedem Tag in der Zeitung. Dass die Menschen inzwischen mehr Einfluss darauf haben als alle übrigen Komponenten der Biosphäre, zeigt der AR6 noch deutlicher und mit noch größerer Sicherheit auf als seine Vorgängerdokumente. Latour schreibt, dass sein Buch Où atterrir (Latour, 2017) der Situation in einem Flugzeug entsprochen habe, das einen Landeplatz braucht, weil weder sein Startflughafen (die vormoderne Welt) noch sein Zielflughafen (der utopische moderne Globus) erreichbar sind. Où suis-je sei dagegen der Bericht nach dem Crash. Ich habe es als Kommentar zu dem Crash gelesen, den der Weltklimarat dokumentiert—auch angesichts der Ratlosigkeit, was hier, in Süddalmatien passieren wird, wenn die Temperaturen weiter steigen und sich die Lebensbedingungen im Meer weiter verändern.
In der Rebel Asssembly, einer Art Vollversammlung der österreichischen Extinction Rebellion-Bewegung am Wochenende, war ein Thema, wie wir positive Zukunftsvorstellungen kommunizieren und damit den Eindruck vermeiden, Extinction Rebellion betreibe Weltuntergangsprophetie. Aus Latours neuem Buch kann man nicht eine einfache Botschaft ableiten. Latour reflektiert über eine Reihe von Themen, von der Wirtschaft über die Körpererfahrung bis zur internationalen Politik. Er kritisiert alle Konzepte, die von gegebenen Totalitäten (dem Leben, der Gesellschaft, der Natur, der Wissenschaft) ausgehen, die nicht als heterogen und immer wieder neu und weiter konstruiert verstanden werden. Aber Ausgangspunkte lassen sich in diesem Buch Latours—wie in seinen vergangen—finden. Durch die radikale Orientierung an der Erde (Latour verwendet Erde als Eigennamen) und an dem Zusammenhang zwischen allem zu ihr, zu Gaia Gehörenden steht Latour einer Bewegung wie Extinction Rebellion, die er positiv erwähnt, sehr nah.
Am interessantesten für eine solche Orientierung finde ich Latours Verständnis des engendrement, der Erzeugung oder des Erzeugens. Er spielt darin einerseits auf die Fortplanzung und die Ketten der Vor- und Nachfahren innerhalb unserer kritischen Zone an, die mit den Mikroorganismen begonnen haben, die den Sauerstoff der Atmosphäre erzeugt haben. Andererseits meint engendrement aber auch kreative, nicht determinierte Inventionen, neue Verknüpfungen von Verschiedenartigem, die sich nicht auf das vorher Existierende und allgemeine Gesetze zurückführen lassen. Man dürfe die Erzeugung auf der Erde nicht mit der Verschiebung von Körpern im Universum verwechseln. Latour schreibt—übrigens da, wo er Extinction Rebellion erwähnt—vom souci d’engendrement, der Sorge um die Erzeugung und die Verkettung der Generationen, die sich nicht nur auf die Menschen bezieht. Diese Sorge ist auch die Sorge um Generationengerechtigkeit, Klimagerechtigkeit und Erhaltung der Biodiversität. Latour beschreibt keine Utopie. Aber gerade deshalb kann eine Bewegung gegen das Massenaussterben, die den Zustand des Erdsystems nicht verharmlost, viel von ihm lernen.