Cover von "The Ministry for the Future"
Cover von „The Ministry for the Future“

The Ministry of the Future (deutsch: Das Ministerium für die Zukunft) ist ein enzyklopädischer Roman, eher in der Tradition des Barockromans als der realistischen Erzählung des 19. Jahrhunderts. Der Roman beschreibt eine Utopie und den Weg zu dieser Utopie. Erzähler und Figuren skizzieren Elemente einer mit der Biosphäre ausgesöhnten Zivilisation und manche der politischen Schritte, die zu ihr führen. Der Erzähler erläutert sie mit vielen Begriffen—von der Half-Earth bis zum Fiat Money—die aus den Diskussionen unserer Gegenwart stammen. Indem er vor allem an gegenwärtiges, nicht an fiktives zukünftiges Wissen anschließt, macht er durchsichtig, dass die Verwirklichung der Utopie in diesem Roman ein Gedankenexperiment ist.


Synkretistisch verwendet die Erzählerfigur Wissen aus Naturwissenschaften, Wirtschaft, Politik und Geschichte. Dieses Wissen ist Stückwerk. Seinen gemeinsamen Horizont bezeichnet der Ausdruck Gaia, der in der Erzählung selbst verwendet wird. Gaia steht für das Erdsystem, auf das sich die vielen wissenschaftlichen Elemente beziehen, die im Roman verarbeitet werden. Gaia bezeichnet aber vor allem die Utopie eines wiederhergestellten Planeten, die der Roman vorwegnimmt.

Georg Lukács hat in seiner Theorie des Romans die transzendentale Obdachlosigkeit als die Voraussetzung des modernen Romans bezeichnet. Diese Ausdruck steht für die Unmöglichkeit einer Erfahrung von Totalität. Der Totalität ordnet Lukács als erzählerische Gattung die Epopöe zu. Geschichte des Individuums und Geschichte der Gesellschaft kommen für Lukács im Roman im Gegensatz zur Epopöe nicht zur Deckung. Dabei versteht Lukács Gesellschaft als eine von der Natur unterschiedene Sphäre.

Obdachlosigkeit ist eine Voraussetzung der Geschichte, die in The Ministry for the Future erzählt wird. Obdachlos und isoliert ist die männliche Hauptfigur Frank May, die durch einen unerklärlichen Zufall in den 2030er Jahren eine Hitzewelle überlebt, der in Indien 20 Millionen Menschen zum Opfer fallen. Als Aktivist und Ökoterrorist kämpft er verzweifelt gegen die Vertreter des globalen Kapitalismus, die für die Klimakatastrophe verantwortlich sind, und unterstützt die Schwächsten ihre Opfer, in der Schweiz gestrandete Klimaflüchtlinge. Frank wird sich von der Katastrophe, die er zu Anfang des Romans überlebt, nie erholen. Obdachlos ist auch Mary, die Leiterin des Zukunftsministeriums, die in der Schweiz in der Welt der UN-Bürokratie lebt. Ministry for the Future ist die Bezeichnung der von den Vereinten Nationenen eingerichteten übernationalen Behörde zur Umsetzung des Pariser Abkommens. Wie Frank besitzt Mary nicht die Handlungsmacht, die agency, die sie braucht. Sie wird von den Mächtigen, vor allem von den finanziell Mächtigen blockiert.

Mary verkörpert die Perspektive einer machtlosen Weltpolitikerin, eine Perspektive von oben, vergleichbar mit der Perspektive der Königsfiguren in der frühneuzeitlichen Literatur, die die Endlichkeit ihrer Macht erfahren. Frank ist dagegen von unten in die ökologische Katastrophe verwickelt, als Opfer der Geschichte. Beide lernen sich kennen, als Frank versucht, Mary zu kidnappen. Ihre Lebensläufe bleiben, auch durch eine angedeutete Liebesgeschichte, miteinander verbunden. Es verbinden sich aber auch die Aktionsmöglichkeiten und Perspektiven miteinander, für die sie stehen.

In The Ministry for the Future sind Obdachlosigkeit und Ohnmacht der Ausgangs-, aber nicht der Endzustand. Mary und Frank gewinnen gemeinsam Macht, agency, weil sich mit ihnen und miteinander Akteure verbünden, die sich nie ganz offenbaren: ein dunkler, im Verborgenen operierender Arm des Ministeriums und die Terrororganisation der Children of Kali. Diese verborgenen Unterstützer ermöglichen, dass sich am Ende des Romans eine Versöhnung von Technosphäre und Biosphäre, eine reale Totalität abzeichnet, die in Allegorien und Idyllen ausgemalt wird. Frank May erfährt diese Utopie nur bei einem Ausflug mit Mary in die Natur der Alpen, stirbt aber dann an einem Hirntumor. Mary wird als erfolgreiche Politikerin pensioniert, nachdem die Treibhausgasemissionen ihren Höhepunkt überschritten haben. Die Bewegung der Half-Earther ist dabei ihr Ziel durchzusetzen, die Hälfte der Erde der unbeherrschten Natur zurückzugeben. Mary lernt diese Regionen der Erde gemeinsam mit dem Luftschiffer Arthur Nolan kennen, der mit Frank befreundet war. Mit ihm zusammen erlebt sie am Ende des Romans die Zürcher Fastnacht—ein karnevaleskes, optimistisches, aber ironisch gebrochenes Romanende als Gegenstück zum tragischen Ökozid am Beginn der Erzählung.

Ist der Science-Fiction-Roman The Ministry of the Future kein Roman im Sinne der Romantheorie von Georg Lukács, sondern eine Epopöe—eine Erzählung, deren Geschlossenheit ein wiedergewonnener Kosmos namens Gaia garantiert? Bruno Latour warnt in seinen Büchern zu Gaia davor, das Erdsystem mit einem geschlossenen Globus oder Kosmos zu verwechseln. Gaia ist wie ihre Elemente historisch, sie lässt sich nicht von einem harmonischen Ausgangs- oder Endzustand her verstehen. Sie ist auch nicht von außen, totalisierend, erfassbar, sondern nur in Fragmenten und aus Perspektiven von innen. Latour setzt diese terrestrischen Perspektiven der modernen Außenperspektive entgegen, aus der etwa die fiktiven Siriusbewohner Voltaires die Mechanik der Erde erkennen und objektiv beschreiben können.

Kim Stanley Robinson ist nicht so naiv, Gaia ungebrochen als einen utopischen Kosmos darzustellen. Stattdessen setzt er utopische Elemente als erkennbare Versatzstücke ein und spielt mit ihnen. Deutlich wird das in der Figur des Arthur Nolan, der Mary die vor den schlimmsten Folgen der Klimakatastrophe gerettete Erde zeigt. Er könnte aus dem Personal Jules Vernes stammen, so wie sein Luftschiff in Vernes Romanwelt passen würde. Robinson zitiert utopische Literatur, um Möglichkeiten der Geschichte zu konkretisieren. Diese Möglichkeiten bleiben Teile eines Gedankenspiels, repräsentieren ein als Fiktion erkennbares als-ob, sind Bilder einer Alternative zur Katastrophe, nicht die Beschreibung dieser Alternativen.


Ich habe versucht, Robinsons Roman mit Begriffen aus der Romantheorie des frühen Georg Lukács zu interpretieren. Dahinter steht für mich die Frage nach dem Verhältnis des Romans Robinsons zu den Erdsystemwissenschaften, die in engen Beziehungen zur Gaia-Hypothese Lovelocks stehen. In der Tradition des poeta doctus verarbeitet Robinson wissenschaftliche und theoretische Texte.

Der moderne Roman bei Lukács ist ein Instrument der Erkenntnis der historischen Gegenwart—der Gegenwart der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren unaufgelösten Widersprüchen. Um diese Gegenwart zu erfassen, orientieren sich realistische Romane in der Tradition des 19. Jahrhunderts an Personen, die breit angelegt sind. Erzählt wird von den Erfahrungen differenzierter Individuen in ihrer Besonderheit. Ein Erzählen, das in die Welt dieser Individuen eindringt, wird damit auch zu einer Beschreibung der Gesellschaft, wobei sich aber die individuelle Ebene nie in der gesellschaftlichen auflöst.

Robinsons Individuen sind schmal, ihre Erfahrung ist begrenzt. In den Roman werden viele weitere Stimmen eingearbeitet, manche von allegorischen Personen wie der Geschichte. Robinson erfasst die historische Situation der Gegenwart nicht, indem er einzelnen Individuen nachgeht, sondern indem er wissenschaftliche Erkenntnisse und Hypothesen mit Fiktionen verbindet. Der Roman ist dabei mehr als eine Illustration wissenschaftlicher Texte, weil er mögliche Handlungen zeigt und damit Handlungsmöglichkeiten, die sich aus den Erdsystemwissenschaften ergeben. Der Autor formuliert aber keine Rezepte. Bereits die Voraussetzung der Handlungen, das Ministerium für die Zukunft, ist fiktiv und paradox: eine übernationale Institution, die wie ein nationales Ministerium handeln kann und auch so heisst.

Damit ist The Ministry for the Future ein Beispiel für eine realistische Literatur in der Epoche der ökologischen Katastrophen und der Erdsystemwissenschaften. Der Wahrheitsanspruch dieses Texts ist von der Wahrheit der wissenschaftlichen Texte, auf die er sich bezieht, nicht zu trennen—wie bei einem journalistischen Text kann man ihn daraufhin beurteilen, wie gut er recherchiert ist. Gleichzeitig stellt er Handlungsmöglichkeiten zur Diskussion, und zwar in ihrer Widersprüchlichkeit und Komplexität. Er spielt praktische Hypothesen durch, die die Konsequenzen der wissenschaftlichen Texte zeigen, auf die er sich bezieht. Man könnte von einem ökologischen Realismus sprechen, einer Literatur, die Möglichkeiten erkundet, den destruktiven Kapitalismus der Gegenwart zu überwinden. Sie bleibt experimentell, erkennbare Fiktion, baut dabei aber auf Erkenntnissen zur historischen und ökologischen Situation der Gegenwart auf, die sie nicht verdrängt oder relativiert.

Ein Kommentar zu “Ökologischer Realismus—zu Kim Stanley Robinsons Roman „The Ministry for the Future“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.